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Neue Hoffnung für die "Arctic 30"

UN-Seegerichtshof fällt wegweisendes Urteil über "Rowdytum" auf hoher See – Greenpeace-Schiff soll freikommen

Von Hermannus Pfeiffer *

Seit zwei Monaten sitzen 30 Greenpeace-Aktivisten (»Arctic 30«) in russischer U-Haft. Nun verlangt der Internationale Seegerichtshof ihre Freilassung – Russland will das Urteil jedoch nicht akzeptieren.

Der Internationale Seegerichtshof in Hamburg entschied am Freitag für Umweltschutz und für die »Freiheit der Meere«. Russland solle »sofort« das Greenpeace-Schiff »Arctic Sunrise« und seine Besatzung freilassen. Sie müssten aus Russland ausreisen dürfen. Im Gegenzug sollten die Niederlande oder Greenpeace eine Kaution von 3,6 Millionen Euro hinterlegen. Die Aktivisten hatten gegen Ölbohrungen in der Arktis protestiert.

Wenige Stunden zuvor hatten russische Behörden bereits Aktivisten auf freien Fuß gesetzt. US-Kapitän Peter Willcox und zwölf weitere Besatzungsmitglieder verließen am Freitag nach Zahlung einer Kaution von umgerechnet je 45 000 Euro das Gefängnis in St. Petersburg, teilte Greenpeace mit. Sie durften das Land aber nicht verlassen. Damit sind inzwischen 29 von 30 im September festgenommenen Greenpeace-Aktivisten und Journalisten wieder frei. International war gegen das harte Vorgehen Russlands protestiert worden.

Weltweit war das Hamburger Urteil mit Spannung erwartet worden. Auch weil es um die grundlegende Bestimmung ging, wie weit der Machtbereich eines Landes ins Meer reicht. Die Niederlande hatten Russland vor dem maritimen Tribunal angeklagt. Das Land und Greenpeace halten das Festhalten der »Arctic-Sunrise«-Besatzung durch die russische Justiz für illegal, da sich das Schiff in internationalen Gewässern befand. Moskau dagegen rechnet besagten Meeresteil zum russischen Festlandsockel und damit zur eigenen Wirtschaftszone.

Die »Arctic Sunrise« ist ein Eisbrecher unter niederländischer Flagge, der von Greenpeace International betrieben wird. Niederländischen Angaben zufolge wurde das Schiff am 19. September außerhalb der russischen Hoheitsgewässer von Beamten der Küstenwache betreten, zum Hafen des Gebiets Murmansk gebracht und dort festgehalten. 30 Besatzungsmitglieder – darunter Staatsangehörige Argentiniens, Australiens, Brasiliens, Dänemarks, Finnlands, Frankreichs, Italiens, Kanadas, Marokkos, der Niederlande, Neuseelands, Polens, der Russischen Föderation, Schwedens, der Schweiz, der Türkei, der Ukraine, des Vereinigten Königreichs und der USA – wurden festgenommen. Den Männern und Frauen drohen wegen »Rowdytums« jeweils bis zu sieben Jahre Haft. Die ursprüngliche Anklage, die auf »Piratentum« lautete, hatten die russischen Behörden vermutlich auch wegen der internationalen Proteste fallengelassen.

Die gecharterte »Arctic Sunrise« war von Greenpeace genutzt worden, um eine Protestaktion gegen die vor der Küste in der Barentssee gelegene, eisresistente Bohrinsel »Priraslomnaja« durchzuführen. Die Niederlande machen geltend, dass die Kaperung von Schiff und Besatzung einen Verstoß gegen die »Freiheit der Meere« im 1994 in Kraft getretenen Seerechtsübereinkommen (SRÜ) der Vereinten Nationen darstellen.

Da sich ein ordentliches Schiedsgerichtsverfahren des Seegerichtshofes, der einzigen UN-Institution in Deutschland, Jahre hinziehen kann, hofften die Niederländer auf die nun erfolgte einstweilige Verfügung, mit der wenigstens die in U_Haft sitzenden Greenpeace-Aktivisten auf freien Fuß kommen sollten.

Russland kündigte am Freitag an, das Urteil der 19 Richter – bei zwei Gegenstimmen – nicht anzuerkennen. Das Tribunal sei nach Ansicht Moskaus nicht zuständig, teilte das Außenministerium mit. Russland habe 1997 das UN-Seerechtsübereinkommen nur teilweise ratifiziert und betont, keine Entscheidungen anzuerkennen, welche die nationale Souveränität einschränkten. Zudem habe die Besatzung der »Arctic Sunrise« gegen internationale und russische Gesetze verstoßen, hieß es weiter. Moskau werde das Urteil prüfen und eine Antwort formulieren, kündigte das Ministerium an.

Bereits der Anhörung Anfang November war Russland ferngeblieben. Erstmals in der noch jungen Geschichte des UN-Seegerichtshofes glänzte eine der Verfahrensparteien durch Abwesenheit. In der vergangenen Woche hatte ein Gericht in St. Petersburg allerdings überraschend mehrere Eingesperrte gegen Kaution von jeweils zwei Millionen Rubel (etwa 45 000 Euro) unter Auflagen freigelassen. Auch sie müssen bis auf weiteres in Russland bleiben.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 23. November 2013

Streit um Greenpeace-Schiff: Russland ignoriert Beschluss des Hamburger Seegerichtshofs

Die Russische nachrichtenagentur RIA Novosti meldete am Freitag, den 22. November:

Moskau werde das Urteil des Seegerichtshofs unter die Lupe nehmen und dann seine Antwort formulieren, teilte das russische Außenamt am Freitag mit. „Wir hoffen darauf, dass das Tribunal den Fall objektiv behandelt und alle Aspekte mit berücksichtigt hat.“ Dabei machte das Außenamt insbesondere darauf aufmerksam, dass die Crew der „Arctic Sunrise“ gegen internationale und russische Gesetze verstoßen hatte.


Einen Tag später, am 23. November hieß es dann:

Russland wird der Entscheidung des Internationalen Seegerichtshofs, das am Freitag die Freilassung des beschlagnahmten Greenpeace-Schiffs „Arctic Sunrise“ angeordnet hat, keine Folge leisten, teilte der Kreml mit.



Rowdytum in der Arktis

Von Kurt Stenger **

Das Urteil des UN-Seegerichtshofes ist eindeutig: Das Vorgehen der russischen Behörden gegen die Greenpeace-Aktivisten, die gegen die Rohstoffausbeutung in der Arktis protestierten und nun wegen Rowdytums angeklagt sind, war unverhältnismäßig. Derartiges hatte man in Russland wohl schon geahnt. Um Entgegenkommen zu signalisieren, wurden einige Umweltschützer kurz zuvor gegen Kaution aus der Haft entlassen.

Dennoch: Moskau hat das Verfahren vor dem Seegerichtshof in Hamburg – immerhin einer UN-Institution, die Vorstöße gegen völkerrechtlich verbindliche Abkommen ahnden soll – erst boykottiert und weist jetzt auch das Urteil zurück. Dies zeigt, dass es im Fall Greenpeace um weit mehr geht als nur um den Umgang mit einer symbolischen Protestaktion von störenden Umweltschützern. Russland will sich, wie andere Anrainerstaaten auch, einen möglichst großen Teil der milliardenschweren Rohstoffvorkommen unter den Nagel reißen. Dabei versucht man, das eigene Wirtschaftsgebiet auf Grundlage fragwürdiger geologischer Expertisen zu erweitern. Die wachsende Militärpräsenz in der Arktis zeigt, dass man die Ansprüche auch mittels Muskelspielen durchzusetzen gewillt ist. Internationales Recht ist da natürlich genauso störend wie die Belange des Umweltschutzes in diesem sensiblen Ökosystem. Ganz altmodisch könnte man von »Rowdytum« sprechen.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 23. November 2013


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