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Russlands Offensive im Norden: Arktis-Grenzen und Rechtsfeld

Von Maxim Krans, Moskau *

Das sensationelle Vordringen des Forschungsschiffes „Akademik Fjdorow“ und des Atomeisbrechers „Rossija“ zum Nordpol, bei dem am 2. August zwei Mini-U-Boote „Mir“ bis zum Grund tauchten , wo eine russische Flagge aus Titan gesetzt wurde, war keine Kulmination, sondern nur eine weitere Etappe in der gegenwärtigen „arktischen Offensive“ Russlands.

Sie begann im Mai: Sobald es die Witterungs- und Eisverhältnisse ermöglichten, begab sich eine Forschungsexpedition auf einem Atomeisbrecher in die Ostarktis. Anderthalb Monate lang erkundeten und fotografierten die Expeditionsteilnehmer das Lomonossow-Gebirge im Ozean. Dieser Tage hat derselbe Eisbrecher „Rossija“ eine neue Fahrt unternommen. Er wird die Erforschung des Kontinentalsockels, darunter mittels ferngesteuerter Tiefseegeräte, fortsetzen. Später werden Polarüberwinterer den Staffelstab übernehmen. Sie sollen auf der neuen Driftstation „Nordpol-35“ von Bord gehen.

Welch wichtige Aufgabe vor den Wissenschaftlern steht, ist schwer überzubewerten. Sie müssen überzeugende Beweise dafür vorlegen, dass der Nordpol Russland gehört. Aber wenn es nur um den Nordpol ginge! Die Rede ist von einem kolossalen Territorium im Ozean, einem Dreieck, dessen Basis die Küstenlinie von der Grenze zu Norwegen im Westen bis zur Beringstraße im Osten bildet. Das sind 1,2 Millionen Quadratkilometer: die Fläche von Italien, Deutschland und Frankreich zusammengenommen.

Im Allgemeinen sah Russland, wie auch die Sowjetunion zuvor, dieses Territorium immer als zu ihm gehörig an. Bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde der arktische „Kuchen“ in fünf Stücke zwischen der UdSSR, den USA, Kanada, Norwegen und Dänemark aufgeteilt. So sah die Sache vor Annahme der UNO-Seerechtskonvention aus. Sie engte die Außengrenze der Polarländer auf eine 200 Meilen breite Wirtschaftszone ein. Das übrige Territorium wurde zum Gemeingut der Menschheit erklärt.

Mit einer einzigen Ausnahme: Gemäß demselben Dokument darf jeder Staat seine Seegrenze um weitere 150 Meilen verbreitern, wenn er beweist, dass der nahe gelegene Ozeanschelf eine Fortsetzung gerade seines Festlandes ist. In Bezug auf Russland handelt es sich um den Beweis, dass das Lomonossowgebirge vom sibirischen Tiefland ausgeht. Vor fünf Jahren reichte Moskau einen solchen Antrag in einer UNO-Sonderkommission ein, doch wirkten seine Argumente damals wenig überzeugend. In ein paar Jahren sollte eine „Nachprüfung“ stattfinden. Eben darauf bereiten sich jetzt die russischen Fachleute vor.

Der Preis der Frage ist bekannt: Nach vorläufigen Schätzungen betragen die Vorräte an Erdöl- und Erdgas in dem „Dreieck“, auf dem Russland seine Claims setzen will, 100 Milliarden Tonnen Erdöläquivalent. Und das ist immerhin beinahe ein Drittel aller Weltvorräte!

Deshalb hat der heutige „Nordfeldzug“ Russlands, wie auch zu erwarten war, bei den anderen Anwärtern auf die arktische Region keine Begeisterung hervorgerufen. Dabei steigt ihre Zahl neuerdings. Dänemark zum Beispiel hat erklärt, der Nordpol und alles, was um ihn liegt, gehöre ausschließlich ihm, weil es sich in unmittelbarer Nähe zu Grönland befinde. Kanada seinerseits besteht darauf, dass das Lomonossow-Gebirge auf dem amerikanischen Festland beginne. Auch die Norweger beeilten sich, ihre langjährige Querele mit Russland um die umstrittene Zone von 155 000 Quadratkilometern in der Barentssee zu regeln.

Die Vereinigten Staaten haben sich ebenfalls aktiviert. Bereits im Mai forderte Richard Lugar, stellvertretender Vorsitzender des Senatsausschusses für auswärtige Angelegenheiten, das Land müsse sich unverzüglich der Seekonvention anschließen, damit sich Moskau nicht in den an Erdöl und -gas reichen Regionen „festsetzt“. Sofort erklärte der Sprecher des US-Außenministers Tom Casey, die unter dem Wasser gesetzte Flagge sei in Russlands Antrag auf die Schelffläche nicht von juristischem Belang.

Alles in allem bestreitet das kaum jemand. Wie auch wohl die Tatsache, dass die Fahrt zur nördlichen „Kappe“ unseres Planeten eher von politischer als von wissenschaftlicher Bedeutung war. Der Expeditionsleiter Artur Tschilingarow, bekannter Polarforscher und stellvertretender Vorsitzender der Staatsduma des russischen Parlaments, machte kein Hehl aus seinen Absichten: „Wir wollen beweisen, dass Russland eine polare Großmacht ist.“

Doch fällt es schwer, den Versuchen der Amerikaner wie auch der anderen Anwärter auf die arktischen Rohstoffe zuzustimmen, welche das Recht der Russen auf ihren Teil des weit im Ozean liegenden Schelfes überhaupt in Zweifel ziehen. Diese Versuche formulierte die britische „Times“ klar genug: „Die Welt muss Russlands Ansprüche auf die Besetzung von unterseeischen Gebieten ablehnen.“ Professor Robert Miller vom juristischen Lewis-Clark-College behauptet in seinem Artikel, der in der „Los Angeles Times“ veröffentlicht wurde: „Die frechen Gebietsansprüche Russlands“ hätten vieles gemein mit der „Entdeckungsdoktrin“, von der sich die europäischen und amerikanischen Weltreisenden im 15. - 20. Jahrhundert hatten leiten lassen: „Wer als erster kommt, bekommt alles.“ Der Experte des amerikanischen Außenpolitischen Rates Scott Borgerson ruft sogar zur Ausarbeitung eines „Vertrages über Mitbesitz“ auf, etwa in der Art, wie er Ende der 50er Jahre über die Antarktis unterzeichnet wurde.

Offener als alle anderen äußerte sich in der „Washington Times“ Ariel Cohen von der Heritage Foundation: „Wenn Moskau die Erschließung der arktischen Ressourcen in Zusammenarbeit und Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und anderen Ländern anbietet, könnte das Projekt ein Beispiel für eine recht produktive internationale Kooperation sein.“ Inzwischen aber müssten die Westmächte, wie er meint, eine gemeinsame Strategie des Vorgehens gegen Russland ausarbeiten: „Auf dem Spiel steht viel zu viel, als dass man all das dem russischen Bären schenkt.“

In Wirklichkeit aber ziehen Russlands Kritiker die Legitimität der UNO-Seerechtskonvention in Zweifel, obwohl sie von den meisten Staaten der Welt ratifiziert wurde. Die amerikanische Zeitung „Investor’s Business Daily“ nennt sie überhaupt ein „München zur See“. Was die Amerikaner angeht, so ist ihre Haltung verständlich. Seinerzeit weigerten sie sich, dieses Dokument zu unterzeichnen - aus der Befürchtung heraus, dass andere Länder Ansprüche auf Seeterritorien erheben würden, die die USA als zu ihnen gehörig betrachten. Mehr noch, Präsident Reagan schasste sogar Mitarbeiter des Außenministeriums, die an der Ausarbeitung des Dokuments beteiligt waren.

Jetzt fällt es Washington plötzlich ein: Wenn sich der russische Antrag als überzeugend erweist, wird die Frage des russischen Schelfes ohne die USA gelöst werden. Daher die blitzartige Entsendung des schweren Küstenschutz-Eisbrechers „Healy“ in den Raum des Nordpolarmeeres wie auch der Beschluss, zwei weitere Eisbrecher zwecks Intensivierung der Präsenz in der Arktis zu bauen. Eine offenkundig verspätete Reaktion.

Alle Handlungen der russischen Seite sind bisher nicht über den Rahmen der Seerechtskonvention hinausgegangen. Anatoli Kolodkin, Präsident der Assoziation für internationales Seerecht und Richter des Internationalen UNO-Gerichtshofes für Seerecht, betonte vor kurzem bei einer Pressekonferenz in Moskau, dass Russland die Frage nach der Zugehörigkeit des Schelfes „strikt in den Grenzen des Völkerrechts“ löst, und erklärte, in diesem Zusammenhang keine Gründe für eine Zuspitzung der diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten zu sehen. „Ein jedes Land dieser Region kann seine Ansprüche auf den Festlandsockel anmelden“, äußerte der Experte, „aber handeln muss es genauso wie Russland: die erforderlichen Zeugnisse zugunsten seiner Ansprüche vorlegen.“

Ein weiterer Fachmann auf diesem Gebiet, Dr. jur. habil. Wassili Guzuljak, sagt folgendes Szenarium der weiteren Entwicklung voraus: „Wenn überzeugende Beweise dafür vorgelegt werden, dass der Seegrund, auf dem die Forschungen vor sich gehen, eine natürliche Fortsetzung des russischen Kontinentalsockels ist, wird Russlands Antrag befriedigt werden.“ Und in diesem Fall „wird die Entscheidung sowohl für die Russische Föderation als auch für die anderen Staaten bindend sein“.

Was nun die Trikoloren betrifft, die die russischen Polarforscher in Eisschollen um den Nordpol oder sogar in den Meeresgrund stecken, so haben sie nichts damit zu tun. Die Frage nach Russlands arktischen Grenzen muss ausschließlich im Rahmen des Rechtsfeldes gelöst werden. Unabhängig davon, wie der Entscheid letztendlich ausfallen mag.

* Maxim Krans ist politischer Kommentator der RIA Novosti.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 14. August 2007;
http://de.rian.ru



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