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Petermanns Zunge

Die Arktis wird schiffbar. Gerade ist das größte Stück Gletscher seit 1962 abgebrochen

Von Ralf Ledebur *

Am Donnerstag morgen vor einer Woche prüfte die Glaziologin Trudy Wohlleben vom Canadian Ice Service routinemäßig die neuen Daten des NASA-ErdbeobachtungSsatelliten Aqua und bemerkte, daß der Petermann-Gletscher im Nordwesten Grönlands gekalbt hatte. Beinahe ein Viertel seiner Zunge (bis dato 15 Kilometer breit und 70 Kilometer lang) war abgebrochen. Seit 1962 ist in der Arktis keine Eisinsel dieser Größe unterwegs gewesen. Sie mißt mehr als 250 Quadratkilometer und »könnte innerhalb der nächsten zwei Jahre den Atlantik erreichen«, wie Andreas Muenchow Ende vergangener Woche erklärte, ein Nordfriese in den USA. Er hat die Größe des abgebrochenen Stücks sehr genau nachgemessen, ist nämlich als Professor für Ozeanographie an der Universität von Delaware gerade sowieso mit der Eisentwicklung in der Region befaßt. Viermal so groß wie Manhatten sei das Stück Zunge, sagt er. »Das Süßwasser, das in dieser Eisinsel enthalten ist, würde alle öffentlichen Trinkwasserhähne der USA für 120 Tage versorgen.« Haben die USA so viele dieser Hähne?

Benannt ist der Petermann-Gletscher, vor dem sich Angela Merkel mal als die größte Klimaretterin der Welt inszeniert hat, nach August Heinrich Petermann, geboren 1822 in Bleicherode bei Nordhausen, gestorben 1878 in Gotha durch Suizid, dazwischen Geo- und Kartograph mit Einfluß. 1865 berief Petermann die erste »Versammlung Deutscher Meister und Freunde der Erdkunde« in Frankfurt am Main ein (später: Geographentag). Vor zum Teil sehr renommierten Kollegen erörterte Petermann das Tagungsthema »Die Veranstaltung einer Deutschen Nordfahrt«. Die Tagung mit seinen Anrufungen an »unsere ersten seefahrenden Mächte, die Preußischen und Österreichischen Regierungen« ging als »Geburtsstunde der deutschen Nordpolarforschung« in die entsprechenden Geschichtsbücher ein.

Petermann vertrat in seiner Rede die »Theorie vom eisfreien (sprich: schiffbaren) Nordpolarmeer«, die im 16.Jahrhundert entwickelt worden und nie so populär war wie Ende des 19.Jahrhunderts. Sie wurde noch vor 1900 widerlegt. Jetzt ruft die Erwärmung der Arktis Petermanns Eroberungsphantasien nachhaltig in Erinnerung. Im vergangenen Jahr durchfuhren schon mal zwei deutsche Handelsschiffe die Nordostpassage.

Ein vollständiges Abschmelzen des Grönland-Eisschelfs allerdings würde zu einem Anstieg des Meeresspiegels um etwa sieben Meter führen. Von einem Meter wären bereits etwa 150 Millionen Menschen in Bangladesch und anderswo direkt betroffen.

* Aus: junge Welt, 12. August 2010


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