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Krise heizt Machtkampf in Armenien an

Freigabe der Landeswährung lässt Preise dramatisch steigen / Russland besorgt um Stabilität

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Der Republik Armenien im Südkaukasus drohen neue Unruhen. Ausgelöst werden die Massenproteste durch horrende Preissteigerungen.

Pflanzenöl, Zucker, Teigwaren. Die Einwohner der armenischen Hauptstadt Jerewan schleppten am Dienstagvormittag weg, was sie tragen konnten. Bis die Supermärkte gegen Mittag schlossen, um die Waren neu auszupreisen. Als sie zwei Stunden später wieder öffneten, war alles um durchschnittlich 40 Prozent teurer. Auch die Benzinpreise zogen innerhalb von Stunden um 20 Prozent an. Denn die Notenbank hatte die Wechselkurse für die Landeswährung, den Dram, freigegeben. Noch am Morgen kostete ein Dollar 305 Dram, nachmittags bereits bis zu 400. Automatisch steigen damit die Preise für Lebensmittel und Treibstoff: Die kleine Republik im Südkaukasus muss, weil sie kaum Rohstoffvorkommen hat und Acker- wie Weideland extrem knapp sind, fast alles importieren.

Lange hatten die Währungshüter versucht, den Dram zu stützen. Vor allem mit Hilfe von Abführungen reicher Armenier in den USA und Westeuropa an den Staatshaushalt. Weil auch dort die Krise zuschlägt, versiegt diese Einnahmequelle inzwischen. Auch Beschränkungen für den freien Verkauf von Devisen halfen nicht, sie nützten nur dem schwarzen Markt. Am Dienstag, als die Devisenreserven die kritische Grenze von einer Milliarde US-Dollar erreichten, ließ die Zentralbank den Dram fallen. Der verlor innerhalb von Stunden 30 Prozent an Wert.

Experten befürchten, dass die Inflation in diesem Jahr weit über den geplanten acht Prozent liegen wird. Und der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts könnte wegen der weltweit gesunkenen Nachfrage nach Kupfer – einem der wenigen Exportschlager Armeniens – ebenfalls deutlich über den angepeilten anderthalb Prozent liegen.

Damit aber kommen Präsident Sersh Sarkisjan und seine Koalitionsregierung in schwere Bedrängnis. Das Regime, so Lewon Ter-Petrosjan, Führer des oppositionellen Armenischen Nationalkongresses HAK und 1991-98 Präsident der Republik, bei einem Protestmeeting mit fast 100 000 Teilnehmern am Sonntag, stehe vor dem Kollaps. Weil die Regierung sich bei Bemühungen um eine Beilegung des Streits mit Aserbaidshan um die Region Bergkarabach stur stelle, wachse Armeniens Isolation. Kritik gab es auch für Demokratiedefizite und inkompetente Wirtschaftspolitik.

Gleichzeitig warnte Ter-Petrosjan den radikalen Flügel der Opposition vor »Revoluzzertum«: Das Regime werde über kurz oder lang selbst kapitulieren und die Macht an »eine Krisenregierung mit Beteiligung aller relevanten politischen Gruppierungen« abtreten.

Russlands Führung treiben offenbar ähnliche Befürchtungen um. Armenien ist derzeit Moskaus einzige sichere Bank im Transkaukasus. Ein Machtwechsel würde, weil die Opposition proamerikanisch eingestellt ist, längerfristig die Nutzung der Truppenbasis bei Gümry, wo Moskau 5000 Soldaten stationiert hat, gefährden. Trotz eigener Probleme sagte Russland Armenien daher schon letzte Woche einen 500-Millionen-Dollar-Stabilisierungskredit zu. Das ist neues Wasser auf die Mühlen der Opposition: Schon bei einem Schuldenerlass für Gaslieferungen ließ Russland sich vor ein paar Jahren Filetstücke der armenischen Wirtschaft überschreiben: Wasserkraftwerke, Bahnlinien und Telekommunikation. Diesmal, fürchten Gegner des Ausverkaufs, könnte der Preis ähnlich hoch sein.

* Aus: Neues Deutschland, 5. März 2009


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