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Armenien hat gewählt: Manipulationsvorwürfe der Opposition

Sersch Sarkissjan siegt bereits im ersten Wahlgang - Das Land bleibt an der Seite Moskaus - Opposition versucht sich in "orange"

Zwei Tage nach der Präsidentenwahl in Armenien standen die Ergebnisse fest. Der vom scheidenden Präsidenten Robert Kotscharjan (er konnte nach der Verfassung kein weiteres Mal antreten) favorisierte Premierminister Sersch Sarkissjan setzte sich mit großem Abstand gegen seine Konkurrenten durch.
Im Folgenden dokumentieren wir zum Wahlausgang zwei Artikel.



Armenien: Sarkissjan gewinnt Duell gegen Ex-Präsident

Von Alexander Iskandarjan *

Am vergangenen Dienstag (19. Februar) hat Premier Sersch Sarkissjan die Präsidentenwahl in Armenien gewonnen.

Nach ersten Angaben der Zentralen Wahlkommission in Armenien erhielt Sarkisjan bei der Abstimmung 859 481 Wählerstimmen. An zweiter und dritter Stelle folgten Lewon Ter-Petrossjan (349 774 Stimmen) und Artur Bagdassarjan (271 688 Stimmen).

Phänomen in der Gesellschaft und Politik

In der armenischen Gesellschaft ist es zu einer recht deutlichen Spaltung gekommen. Nach den ersten, vorläufigen Angaben stimmten die Armenier in der Hauptstadt Jerewan mehr für die Opposition als im ganzen Lande. Das war zu erwarten, da meiner Ansicht nach die wichtigsten Bewerber bei der Präsidentschaftswahl Sersch Sarkissjan und Lewon Ter-Petrossjan waren. Was die übrigen sieben Kandidaten (ich meine nicht die Zahl der für sie abgegebenen Stimmen und ihre Politik) angeht, so spielten sie eine Nebenrolle.

Ich möchte betonen, dass etwas Erschütterndes geschehen ist. Im Grunde ist aus dem politischen Nichts ein Mensch (Ter-Petrossjan) aufgetaucht, der seit zehn Jahren weder im politischen noch im gesellschaftlichen Leben und in der Presse eine Rolle spielte. Dieser Mensch, der alles in allem keine ernste politische Organisation bei der Hand hatte, hat nach zwei oder drei Monaten Arbeit etwa jeden fünften Wähler für sich gewonnen, wovon die Wahlergebnisse zeugen. Das ist zweifellos ein Phänomen und zeugt außerdem davon, dass im Lande ein ernster politischer Kampf im Gange ist.

Armeniens politisches Feld braucht eine Opposition. Heute gibt es auf diesem Feld keine echte Opposition, und dass Lewon Ter-Petrossjan, der die soziale Unzufriedenheit sozusagen geschürt hat, binnen so kurzer Zeit und mit geringen Mitteln eine solche Wählerzahl aktivieren konnte, zeigt: Die Gesellschaft geht mit einer Opposition schwanger. Doch vor der Wahl gab es diese Opposition im politischen Sinne nicht. Ob sie sich weiterhin wie in der Vorwahlzeit formen wird, ist vorläufig schwer zu sagen.

Traditionen der armenischen Opposition

Auch in Armenien gibt es die Tradition in der Politik, der zufolge die wichtigste Verliererpartei die Wahlergebnisse nicht anerkennt. Das war immer so - wie bei den Präsidentschaftswahlen 1996 und 2003. Wenn die Opposition die Wahlergebnisse nicht anerkennt, organisiert sie gewöhnlich Kundgebungen. Bei dem heutigen Kräfteverhältnis sind verschiedene Varianten der Entwicklung der Ereignisse möglich. Am Abend nach der Erklärung der internationalen Beobachter war die Situation jedoch klar.

Theoretisch war auch der Ausbruch von Gewalt im Prinzip möglich. Doch diese Wahrscheinlichkeit ist nicht mehr sehr groß.

Unvoreingenommenheit der Wahlbeobachter

Die Wahlbeobachter haben ihre Arbeit getan und ihre offizielle Einschätzung abgegeben. Ich weiß zumindest eines: Armenien ist nicht Georgien, und hätte es bei der Wahl ernsthafte Ausschreitungen gegeben, wäre das an die Öffentlichkeit gelangt. Alles in allem haben die europäischen Beobachter keine speziellen Gründe, den Kandidaten Sersch Sarkissjan zu unterstützen.

* Zum Verfasser: Alexander Iskandarjan ist Direktor des Kaukasischen Massenmedien-Instituts (Jerewan) und Mitglied des Expertenrates der RIA Novosti.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 22. Februar 2008



Opposition in orange

Armenien: Großdemonstration wegen "Manipulation" der Präsidentschaftswahl

Von Gloria Fernandez **

In Armenien wird es keinen zweiten Wahlgang zur Präsidentschaft geben. Nach Auszählung aller Stimmzettel, die am Dienstag abgegeben worden waren, steht Sersh Sarkisjan, Vorsitzender der Republikanischen Partei, als Sieger fest. Auf ihn entfielen laut Angaben der Wahlkommission von Mittwoch 52,9 Prozent der Stimmen. Der frühere Präsident Leon Ter-Petrosjan kam demnach lediglich auf 21,5 Prozent. Die Wahl sei »manipuliert« worden, protestierte die Opposition und kündigte umgehend Proteste an.

Expräsident Ter-Petrosjan war 1998 wegen seiner Kompromißbereitschaft gegenüber des westlich orientierten Nachbarlandes Aserbaidschan in Sachen der armenisch besiedelten, doch auf aserbeidschanischem Boden befindlichen Region Nagorny Karabach zum Rücktritt gezwungen worden. Er galt nunmehr als Favorit insbesondere der USA, in deren geostrategischen Überlegungen ein Machtwechsel in Eriwan von zentraler Bedeutung ist. Unter anderem verspricht sich Washington davon eine weitere Verdichtung seiner über Aserbaidschan und Georgien bereits starke Präsenz im Südkaukasus und in der Kaspi-Region.

Ob es nach dem Scheitern dieses Vorhabens an den Wahlurnen gelingen könnte, eine oppositionelle, westlich orientierte Massenbewegung nach »orangem« Vorbild anderer ehemaliger Sowjetrepubliken zu etablieren, bleibt abzuwarten. Am Mittwoch versammelten sich etwa 20000 Menschen unweit vom Sitz der Wahlkommission in der Hauptstadt Eriwan. Unter starkem Polizeiaufgebot zogen die Demonstranten später zum Regierungssitz.

Auch wurde damit gerechnet, daß Ter-Petrosjan zumindest indirekt Unterstützung durch die etwa 600 Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) erhalten könnte. Diese berichteten am Mittwoch (20. Feb.) zwar, daß die Abstimmung »in den meisten Fällen« korrekt verlaufen sei, schränkten jedoch ein, es habe »Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung« gegeben. Ob sie deswegen zu der Schlußfolgerung kommen würden, das Ergebnis sei dadurch »nachhaltig beeinflußt« worden, blieb unklar.

Insgesamt etwa 2,3 Millionen Menschen waren aufgerufen gewesen, ihre Stimme für einen der neun Kandidaten abzugeben. Der bisherige Präsident Robert Kotscharjan durfte laut Verfassung nach zwei Amtszeiten in Folge nicht wieder antreten. Er hatte Regierungschef Sarkissjan im Wahlkampf als Wunschnachfolger unterstützt. Beobachter erwarten, daß Sarkissjan die engen Beziehungen zu Moskau ebenso beibehalten wird, wie die aufgeschlossene Haltung gegenüber Teheran.

** Aus: junge Welt, 21. Februar 2008


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