Schüsse im armenischen Wahlkampf
Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Sargsjan scheint gewiss
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Der heutige Montag ist für die werktätigen
Armenier arbeitsfrei: Sie sind
zur Präsidentenwahl aufgerufen. Vor
fünf Jahren waren der Wahl blutige
Unruhen gefolgt. Diesmal scheint
Amtsinhaber Sersh Sargsjan jedoch
ohne ernsthafte Konkurrenz zu sein.
Auf den 63-jährigen Präsidentschaftskandidaten
Paruir Airikjan, Dissident schon zu sowjetischen
Zeiten und heute Vorsitzender des
Bündnisses »Nationale Selbstbestimmung«, wurden am 31. Januar
mitten im Zentrum Jerewans mehrere Schüsse abgefeuert. Der
Politiker lag danach für zehn Tage
im Krankenhaus und beantragte beim Verfassungsgericht eine
zweiwöchige Verschiebung der für den 18. Februar geplanten Präsidentenwahl. Durch die Verletzung habe er wichtige Wahlkampftermine
nicht wahrnehmen können,
was seinen Zustimmungsraten
geschadet habe, begründete Airikjan
den Antrag. Allerdings
galt er schon vor dem Anschlag als chancenloser
Außenseiter. Umfragen billigten ihm
nur knapp fünf Prozent der Stimmen zu. Eine
Woche vor dem Wahltermin zog Airikjan seinen
Antrag denn auch zurück.
Zwar wurden nach dem Attentat zwei Tatverdächtige
festgenommen, unklar blieben aber
sowohl die Motive für den Anschlag
als auch die wahren Gründe für den Antrag auf Wahlverschiebung
wie für den Rückzieher. Edgar Wardanjan vom Armenischen
Zentrum für nationale und internationale
Studien vermutete sogar einen Komplott: Airikjan habe die
Wahlverschiebung mit ausdrücklicher
Billigung des amtierenden Präsidenten Sersh Sargsjan beantragt.
Damit sollten die Gesellschaft verunsichert und die »Atmosphäre
des Schreckens weiter vertieft« werden, sagte Wardanjan
dem Online-Nachrichtenportal EurasiaNet.
Sersh Sargsjan wurde 1954 in
Berg-Karabach geboren, jener von
Armeniern bewohnten Region, die
sich 1988 von Aserbaidshan losgesagt
hatte, was zu einem verlustreichen,
bis heute ungelösten
Konflikt zwischen den beiden
Nachbarländern führte. Er war
bereits Regierungschef, als er
2008, zum Präsidenten der Republik
Armenien gewählt wurde,
mit ausdrücklicher Unterstützung
seines Amtsvorgängers Robert
Kotscharjan, der ebenfalls aus
Berg-Karabach stammt. Beiden
wirft die Opposition Manipulation
der Abstimmungsergebnisse vor.
Bei der Wahl im Februar 2008
hatte Sargsjan seinen wichtigsten
Rivalen Lewon Ter-Petrosjan laut
offiziellem Resultat weit hinter sich
gelassen. Ter-Petrosjan, der als
erster Präsident des unabhängigen
Armeniens von 1991 bis 1998 amtiert
hatte, forderte jedoch die Annullierung
der Wahl wegen Fälschung
und rief seine Anhänger zu
Demonstrationen auf. Bei Massenunruhen
am 1. März jenes
Jahres kam es zu Zusammenstößen
mit den Sicherheitskräften,
zehn Menschen starben.
Lewon Ter-Petrosjan, inzwischen
68 Jahre alt, tritt diesmal
nicht wieder an. Nicht nur das:
Keine der großen Oppositionsparteien
nominierte einen Kandidaten.
Dennoch hat Sargsjan neben
Airikjan fünf weitere Kontrahenten,
die allerdings nur auf magere
Zustimmungswerte kommen. Das
betrifft den ehemaligen Regierungschef
Hrant Bagratjan ebenso
wie den früheren Innenminister
Raffi Owanisjan, Berg-Karabachs
ehemaligen Außenminister Arman
Melikjan, den Philologen Wardan
Sedrakjan wie den Politologen Andrias
Gukassjan (siehe Interview).
Weit vorn in den Umfragen liegt
mit gut 60 Prozent Sersh Sargsjan.
Er gilt als Russlands einziger treuer
Verbündeter unter den Staatsoberhäuptern
im Südkaukasus,
unter seiner Präsidentschaft haben
russische Unternehmen etliche
armenische Betriebe aufgekauft.
Die liberale Opposition, unterstützt
von den einflussreichen, gut
betuchten Auslandsarmeniern,
sucht dagegen wie Nachbar Georgien
den Schulterschluss mit dem
Westen, vor allem mit dessen Führungsmacht,
den USA. Sie glauben
auch, dass es Moskaus lange Hand
war, die eine Normalisierung der
armenischen Beziehungen zum
Erbfeind Türkei, wie sie 2008 unter
Schweizer Vermittlung ausgehandelt
worden war, scheitern
ließ: Sargsjan sei vom Kreml zurückgepfiffen
worden. Tatsache
ist, dass Russland in Armenien
seine einzige Truppenbasis südlich
des Kaukasuskammes hat: Bei
Gümry – dem einstigen Leninakan – stehen rund 5000 russische Soldaten.
* Aus: neues deutschland, Montag, 18. Februar 2013
"Ein parasitäres System"
Kandidat Andrias Gukassjan protestierte durch Hungerstreik **
Der Polit- und Umweltaktivist Andrias Gukassjan hat seine Präsidentschaftskandidatur mit einer Protestaktion verbunden: Seit dem 21. Januar campierte der 42-Jährige auf der Straße gegenüber der Nationalversammlung in Jerewan und forderte: »Stoppt die Schwindelwahlen«. Überdies trat er in den Hungerstreik. Für »nd« befragte ihn Franz Altmann nach seinen Beweggründen.
Warum sprechen Sie von Schwindelwahlen?
Wahlen sind falsch, wenn die
Wähler unter Druck gesetzt oder
bestochen werden. In Armenien
weiß jeder, dass die Republikanische
Partei die Wähler massenweise
besticht und dass Menschen,
die in staatlichen Institutionen arbeiten,
gezwungen werden, für die
Republikanische Partei zu stimmen.
Können internationale Wahlbeobachter
daran etwas ändern?
Die Wahlbeobachter bestätigen
nach jeder Wahl, dass sie nach internationalen
Standards verlaufen
sei. Dadurch erkennen sie jedes
Mal das Bestechungssystem an.
Deswegen habe ich gefordert, eine
internationale Wahlbeobachtung
in Armenien nicht mehr zuzulassen.
Denn sie unterminiert den
Glauben der armenischen Bevölkerung
an europäische Werte.
Was hat Sie zu Ihrer Aktion motiviert?
In unserem Land herrscht ein kriminelles,
parasitäres Oligarchensystem.
Es zerstört unsere natürlichen
Ressourcen und unser
menschliches Kapital. 20 Jahre
lang haben die Oppositionsparteien
dieses kriminelle Oligarchensystem
durch ihr ineffektives Handeln
gestützt. Und nun haben sich
alle Oppositionsparteien sogar
selbst aus dem Rennen genommen.
Das bedeutet, dass unsere
Bevölkerung allein dem kriminellen
System gegenübersteht.
Mit welchen Methoden arbeiten
Sie?
Der Hungerstreik ist ein Mittel des
Protests. Wir, mein Team und ich,
sind bereit, uns in diesem Kampf
zu opfern. Das ist ein wichtiges
Zeichen, weil die Bevölkerung enttäuscht
ist von Politikern, die
Menschen auf die Barrikaden
schicken, ohne jemals ihr eigenes
Leben zu riskieren. Unsere Methode
ist, dass zuerst Politiker die
Opfer bringen, und dann entscheiden
die Menschen, ob sie mitmachen
oder nicht.
Welche Resonanz erhalten Sie?
Es gibt Leute, die äußern sich anerkennend,
aber sie sind nicht sicher,
ob diese Methode wirksam
ist. Andere versuchen uns zu unterstützen
und machen mit. In sozialen
Netzwerken gibt es auch
kritische Reaktionen. Leute sagen,
Hungerstreik habe keinen Sinn, in
unserem Land werde sich ohnehin
nie etwas ändern. Andere behaupten
auch, der Hungerstreik
sei gefälscht und von der Regierung
organisiert. Das ist ein Teil
des Informationskrieges.
War es schwierig, die Genehmigung
für diesen öffentlichen Protest
zu bekommen?
Nein, ich bin schließlich Präsidentschaftskandidat.
Niemand kann mich aufhalten. Dies ist öffentlicher
Raum.
** Aus: neues deutschland, Montag, 18. Februar 2013
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