Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Berg-Karabach – Verlierer auf beiden Seiten

Auch 20 Jahre nach einer Waffenstillstandsvereinbarung gibt es kein Friedensabkommen

Von André Widmer *

Einen »eingefrorenen Konflikt« nennt man die Situation in und um Berg-Karabach, das Gebiet im Südkaukasus, um das Armenier und Aserbaidshaner streiten.

Ein toter und ein verletzter armenischer Soldat, drei verwundete aserbaidshanische Militärangehörige: Das ist die Bilanz der letzten Tage an der Demarkationslinie des Berg-Karabach-Konflikts. Jährlich sterben dort 20 bis 30 Menschen, darunter auch Zivilisten. Und das, obwohl ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidshan besteht. Nach wie vor halten Armenien und armenische Separatisten fast 20 Prozent des Territoriums von Aserbai-dshan besetzt.

20 Jahre ist es her, seit das Waffenstillstandsabkommen im Mai 1994 in Bischkek (Kirgistan) unterzeichnet wurde; 20 Jahre, in denen kein Friedensvertrag vereinbart werden konnte. Eine Lösung des Konflikts scheint in weiter Ferne: Während die Armenier für Berg-Karabach nach wie vor das Recht auf Selbstbestimmung fordern, besteht Aserbaidshan auf seiner territorialen Integrität. Vermittlungsversuche der Minsk-Gruppe der OSZE blieben ergebnislos.

Verlierer der vergangenen 20 Jahre sind beide Seiten: Die Armenier haben zwar auf dem Schlachtfeld einen Sieg errungen. Doch die Folge ist eine teilweise wirtschaftliche Isolierung. Einerseits natürlich durch den Kriegsgegner Aserbaidshan. Aus Solidarität zu den turksprachigen Aserbaidshanern schloss aber auch das Nachbarland Türkei die Grenzen zu Armenien. Aus Aserbaidshan flüchteten etwa 300 000 Armenier. Das bitterarme Armenien, das kaum über natürliche Ressourcen verfügt, ist von Bevölkerungsschwund betroffen: Seit 1994 sank die Einwohnerzahl von 3,3 auf 3,0 Millionen Menschen. Viele Armenier suchen ihr Glück im Ausland – namentlich in Russland. Während zwischen 2000 und 2007 durchschnittlich noch 25 000 Personen auswanderten, waren es in den letzten Jahren jährlich um die 35 000. Darüber hinaus ist Armenien zu einem praktisch monoethnischen Staat (98 Prozent Armenier) geworden.

Dem armenisch besetzten und als eigenständiges Völkerrechtssubjekt nicht anerkannten Berg-Karabach wiederum sind offizielle Handelsbeziehungen mit dem Ausland erschwert. Zwar geben die Behörden Berg-Karabachs eine Arbeitslosenrate von 5,6 Prozent (2008) an, die Zahl dürfte aber um ein Vielfaches höher liegen. Die wirtschaftliche Isolation wird durch die geografische noch verstärkt. Die Armut in Bergkarabach ist außerhalb der Hauptstadt Stepanakert groß.

Andererseits trägt auch Aserbai-dshan als militärischer Verlierer große Lasten: Fast ein Fünftel seines Staatsgebietes ist okkupiert, etwa 800 000 Flüchtlinge und Binnenvertriebene aus Armenien, Berg-Karabach und weiteren besetzten Distrikten in der Region sind registriert. Wohl aber hat das Land in den letzten Jahren dank der sprudelnden Einkünfte aus dem Gas- und Ölsektor eine beispielhafte ökonomische Entwicklung genommen, die auch in Regionen außerhalb der Hauptstadt Baku zur Verbesserung der Lebensumstände geführt hat.

Eine unheilige Balance der Interessen der Großmächte Russland und USA, aber auch der Konfliktparteien sorgte und sorgt dafür, dass der Zwist um Berg-Karabach bisher nicht gelöst wurde, sich aber auch nicht verschärft hat. Russland stärkt Armenien den Rücken, kann dort eine Militärbasis betreiben und bleibt wichtigster Handelspartner. Die USA wiederum haben starke wirtschaftliche Interessen in Aserbaidshan, vermeiden es aber wohl auch angesichts der starken armenischen Diaspora in Nordamerika, Armenien zu verurteilen – obwohl vier UNO-Resolutionen den Truppenrückzug fordern.

Zwar gibt es durchaus gewisse Interessenkonflikte zwischen den Armeniern im »Mutterland« und den Karabacharmeniern: Für Jerewan ist ein Rückzug der Truppen aus den besetzen Gebieten um Berg-Karabach noch vor einem Referendum über den zukünftigen Status des Gebiets denkbar, für Stepanakert nicht. Dennoch ist der Status quo für die Armenier politisch akzeptabel, weil die wirtschaftlichen, militärischen und gesellschaftlichen Verbindungen so stark sind, dass Berg-Karabach faktisch eine armenische Provinz darstellt. Und obwohl Aserbaidshans Präsident Ilham Alijew gelegentlich die militärische Option für die Rückholung Berg-Karabachs zumindest in seinen Aussagen nicht ausschließt: Das Land wird sich hüten, den in den letzten Jahren erreichte wirtschaftlichen Aufschwung durch einen Waffengang zu riskieren. Rhetorische Drohungen dürften deshalb eher innenpolitischen Zwecken dienen. Auf der Strecke bleiben unter dem Strich die Hunderttausenden Flüchtlinge auf beiden Seiten: Sie können nicht in ihre frühere Heimat zurückkehren.

* Aus: neues deutschland, Freitag 30. Mai 2014


Zurück zur Armenien-Seite

Zur Armenien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Aserbeidschan-Seite

Zur Aserbeidschan-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage