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Schüsse in einem "eingefrorenen Konflikt"

Tote bei Scharmützeln zwischen Armenien und Aserbaidshan

Von André Widmer *

Während US-Außenministerin Hillary Clinton in dieser Woche die Staaten des Südkaukasus besuchte, ist es zu schweren Zusammenstößen an der armenisch-aserbaidshanischen Grenze gekommen. Auch an der Waffenstillstandslinie um Berg-Karabach gab es wieder Opfer.

Immer wieder wird die Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidshan um die Region Bergkarabach – völkerrechtlich bis heute ein Teil Aserbaidshans – als »eingefrorener Konflikt « bezeichnet. Tatsächlich sind die politischen Positionen der Streitparteien erstarrt, doch die Lage an der Grenze zwischen den Staaten und an der Waffenstillstandslinie zu den besetzten Gebieten ist durchaus nicht stabil. Das bewahrheitete sich in den vergangenen Tagen.

Am Dienstag dieser Woche sind fünf aserbaidshanische Soldaten bei Gefechten ums Leben gekommen. Während das Verteidigungsministerium in Baku von einem Überfall durch Armenier auf einen Armeestützpunkt sprach, warf Armenien dem Nachbarland einen gezielten Vorstoß einer 15 bis 20 Mann starken Gruppe in die Region Tavush vor. Ein Tag zuvor soll ein ähnlicher Vorfall mit dem Tod dreier armenischer Soldaten geendet haben.

Bemerkenswert ist in Bezug auf diese zwei gewaltsamen Zusammenstöße, dass sie nicht an der Waffenstillstandslinie um Berg- Karabach, sondern etwa 80 Kilometer nördlich der umstrittenen Region stattfanden. Der dritte schwere Zusammenstoß schließlich ereignete sich bei Horadiz, einer Kleinstadt nahe der iranischaserbaidshanischen Grenze und der Waffenstillstandslinie zu Berg- Karabach. Dort wurde ein Soldat der Streitkräfte der separatistischen Karabach-Armenier getötet, zwei weitere wurden verletzt. Entlang der Grenze Armenien-Aserbaidshan und der Waffenstillstandslinie fanden bis zum Donnerstagmorgen an verschiedenen Orten Schusswechsel statt.

Die gegenseitigen Schuldzuweisungen für die Eskalation kommen nicht überraschend. »Wir wissen, wer für die Situation verantwortlich ist. Die armenische Führung trägt die volle Verantwortung für den Tod junger Menschen entlang der Waffenstillstandslinie «, erklärte Elman Abdullajew, Pressesprecher des aserbaidshanischen Außenministeriums. Auch der armenische Präsident Sersh Sargsjan äußerte sich. »Ich habe oft gesagt, dass Provokationen entlang der Waffenstillstandslinie extrem gefährlich sind. Und dass sie eine ernsthafte Reaktion nach sich ziehen. Die aktuellen Vorfälle sind ein Beweis dafür«, wurde Sargsjan vom armenischen Rundfunk zitiert.

Dennoch dürften auch die schweren Zwischenfälle nicht zu einem zweiten Karabach-Krieg führen. Die aserbaidshanische Führung ist nicht daran interessiert, die wirtschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahre mit einem neuen Waffengang aufs Spiel zu setzen. »Die jüngsten Gewaltvorfälle verliefen nach einem charakteristischen Muster«, erklärt der Politikwissenschaftler Heiko Langner, der zu den südkaukasischen Krisenherden ein Buch veröffentlich hat, »gewalttätige Eskalationen finden meist entweder vor Gipfeltreffen oder nach einer Feldmission der OSZEGruppe statt.« Beide Parteien bezichtigten sich dann gegenseitig der Verantwortung, was aber kaum überprüfbar sei.

»Das Motiv besteht darin, mit der Eskalation die internationale Öffentlichkeit wach zu rütteln und auf den ungelösten Konflikt hinzuweisen. Dies in der Hoffnung, dass sich die an der Vermittlung beteiligten Akteure stärker für eine Lösung engagieren«, erläuterte der Experte. Für ihn ist klar, dass der Waffenstillstand umgehend stabilisiert werden muss. Eine stärkere Kontrolltätigkeit an der Waffenstillstandslinie, das Unterlassen jeglicher Siedlungsaktivitäten in den besetzten Gebieten um Berg-Karabach und die Intensivierung der heute sehr schwachen Kontakte der beiden Gesellschaften könnten seiner Meinung nach konstruktive Ansätze sein.

Der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidshanern um die in Aserbaidshan gelegene, doch schon vorher mehrheitlich von Armeniern besiedelte Region Berg- Karabach hat zwischen 1991 und 1994 rund 30 000 Menschenleben gefordert. Eine Million Menschen wurden vertrieben. Armenische Separatisten halten heute neben Berg-Karabach sieben weitere Distrikte Aserbaidshans besetzt. In vier UNO-Resolutionen wurde der Rückzug der armenischen Truppen gefordert, der jedoch bis zum heutigen Tag nicht erfolgt ist.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 9. Juni 2012


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