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"Keine Parallelen zwischen Karabach und Kosovo"

Aserbaidshan besteht auf seiner territorialen Unversehrtheit

Der 49-jährige Jurist Chalaf Chalafov, dessen Domäne das internationale Recht ist, arbeitet seit 1997 als stellvertretender Außenminister der Republik Aserbaidshan. ND-Redakteur Detlef D. Pries befragte den Vizeminister während seines jüngsten Aufenthalts in Berlin.
Wir dokumentieren im Folgenden das Interview aus dem "Neuen Deutschland".



ND: Warum zeigt sich die Welt, die den Karabach-Konflikt fast schon vergessen hatte, neuerdings so sehr an einer Lösung interessiert?

Chalafov: Die neue Etappe des südossetisch-georgischen Konflikts hat gezeigt, welche Gefahren solche »eingefrorenen Konflikte« in sich bergen. Sie sind eine ständige Gefahr für die Stabilität und die Entwicklung einer ganzen Region. Zumal der Südkaukasus und der Raum um das Kaspische Meer mit ihren Potenzen von großer Bedeutung für die ganze Welt sind.

In Moskau haben sich die Präsidenten Aserbaidshans und Armeniens kürzlich geeinigt, den Konflikt auf friedlichem Wege beizulegen. Nur die Grundpositionen beider Seiten scheinen unverändert – und unvereinbar – zu sein.

Wir schätzen die Ergebnisse des Moskauer Treffens sehr. Sie sind eine gute Grundlage für die Fortsezung intensiver Verhandlungen über die friedliche Lösung des Konflikts. Wichtig ist vor allem die Vereinbarung, die Verhandlungen fortzusetzen. Dabei wird es hoffentlich zur Annäherung der Positionen kommen.

Die Karabach-Armenier selbst sind an den Verhandlungen bisher nicht beteiligt. Glauben Sie, dass ohne deren Mitsprache eine Lösung überhaupt möglich ist?

Konfliktpartei ist in unseren Augen Armenien. Berg-Karabach und sieben umliegende Bezirke Aserbaidshans wurden von den Streitkräften der Republik Armenien okkupiert. Folglich sind nur Armenien und Aserbaidshan Konfliktparteien. Armenien hat die separatistischen Neigungen der Karabach-Armenier gefördert, die aber sind aserbaidshanische Staatsbürger und ihre Rechte als nationale Minderheit werden von Aserbaidshan garantiert werden.

Betrachten Sie also Armeniens Präsidenten Serge Sarkisjan als aserbaidshanischen Staatsbürger? Er stammt aus Berg-Karabach.

Er ist in Aserbaidshan geboren und aufgewachsen, er war aserbaidshanischer Staatsbürger. Alles andere ist eine Frage der armenischen Gesetzgebung.

Bisher bestehen die Karabach-Armenier auf ihrer Unabhängigkeit. Bis zu welchem Grade kann und will Aserbaidshan ihren Wünschen entgegen kommen?

Es kann nur eine Lösung im Rahmen des Völkerrechts geben, das die territoriale Unversehrtheit und die Souveränität der Staaten garantiert. Durch eine solche Lösung bekämen auch die Rechte der Minderheit und deren Sicherheit ein starkes Fundament. Zur Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts gibt es in der Welt verschiedene Formen der Autonomie. Wir haben mehrfach erklärt, dass wir bereit sind, den Armeniern Bergkarabachs den höchsten Grad der Autonomie zu gewähren. Einen eigenen Staat aber haben die Armenier bereits – eben Armenien.

Armenien ist derzeit geografisch ziemlich isoliert, die Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidshan sind geschlossen. Wären Sie bereit, diese Isolierung zu beenden?

Nicht wir haben Armenien isoliert, Armenien hat sich durch seine Nachbarschaftspolitik selbst isoliert. Es hat 20 Prozent des Territoriums Aserbaidshans okkupiert. Mehr als eine Million Menschen wurden aus ihren Heimatorten vertrieben. Um sich aus der Isolierung zu befreien, muss Jerewan seine Politik ändern. Unsere Region hat ein großes wirtschaftliches Potenzial, von dem alle Staaten – auch Armenien – profitieren können. Voraussetzung ist eine Konfliktlösung zum Wohle aller Staaten in der Region, aber auch zum Wohle derer, die Interessen und Einfluss in der Region haben. Der gegenwärtige Status des »eingefrorenen Konflikts« entspricht jedenfalls niemandes Interesse. Durch vertrauensbildende Maßnahmen und die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den Staaten könnten Frieden und Stabilität gesichert werden.

An welche vertrauensbildenden Maßnahmen denken Sie?

Zuerst müssen die Staaten auf Gewalt und auf territoriale Ansprüche gegeneinander verzichten. Die Befreiung der besetzten Gebiete Aserbaidshans, die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatorte, die Wiederherstellung von Verkehrswegen und Kommunikationskanälen können zum Wachsen des Vertrauens führen. Wir haben schließlich jahrhundertelang zusammengelebt. Vor Beginn des Konflikts lebten 250 000 Aserbaidshaner in Armenien. Sie alle wurden vertrieben. Wir wollen nicht, dass die Nationen durch einen Eisernen Vorhang voneinander getrennt werden. Für uns ist die EU ein Beispiel dafür, wie formale Grenzen durchlässig werden können. Betonen will ich, dass neben Russland und der Türkei auch die EU im Rahmen der Minsker Gruppe der OSZE zur Lösung des Konflikts beitragen kann.

Gerade die EU hat aber mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos einen Präzedenzfall geschaffen, der nicht im Sinne Aserbaidshans sein kann.

Man sollte zwischen Kosovo und Karabach keine Parallelen konstruieren, insbesondere wenn es um die Lösung geht. Es handelt sich um unterschiedliche Regionen. Ich glaube, die EU hat im Fall Kosovo gemäß ihren Interessen gehandelt. Entsprechend den Grundprinzipien des Völkerrechts und bei Berücksichtigung der geopolitischen Unterschiede wird sie im Falle Berg-Karabachs eine Lösung im Rahmen der territorialen Integrität Aserbaidshans unterstützen. Eine Lösung nach dem Kosovo-Vorbild würde keinesfalls der Stabilität, der Zusammenarbeit und der Entwicklung der Region dienen.

Wagen Sie eine Prognose, in welchem Zeitraum eine Lösung möglich ist?

Eine Prognose ist schwierig. Alles hängt vom Willen der Verhandlungspartner und den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft ab. Wenn deren großes Potenzial genutzt wird, kann eine Lösung rasch erreicht werden.

20 Jahre Streit

Aserbaidshans Geduld sei erschöpft, verkündete Präsident Ilham Alijew vor anderthalb Jahren in Berlin. Das »Problem Nummer 1« seines Landes müsse endlich gelöst werden. 20 Jahre sind bereits vergangen, seit der Gebietssowjet des mehrheitlich armenisch besiedelten Autonomen Gebiets Berg-Karabach den Antrag stellte, das Gebiet aus der damaligen Aserbaidshanischen SSR herauszulösen und der Armenischen SSR anzugliedern. Der Antrag wurde in Moskau und Baku abgelehnt.

Nach dem Zerfall der UdSSR wurde aus dem Konflikt ein offener Krieg, dem bis zum Waffenstillstand im Jahre 1994 etwa 30 000 Menschen zum Opfer fielen. Eine Million Aserbaidsha-ner und 400 000 Armenier wurden aus ihren Heimatorten vertrieben. Berg-Karabach, das sich einseitig für unabhängig erklärte, und sieben angrenzende Bezirke Aserbaidshans werden seither armenisch beherrscht.

Die »internationale Gemeinschaft«, die sich in Gestalt der Minsker Gruppe der OSZE um eine Lösung bemüht, kam bisher nicht voran. Aserbaidshan besteht auf seiner territorialen Integrität, die Armenier pochen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Parallelen zum Kosovo-Konflikt liegen auf der Hand, werden jedoch von vielen Seiten bestritten: In Baku hofft man nicht ohne Grund darauf, dass die internationalen Hauptakteure im eigenen Interesse für die öl- und gasreiche Kaspi-Region ein anderes Modell als im Fall Kosovo bevorzugen. Und nach dem jüngsten Krieg im Kaukasus drängen viele Staaten auf eine friedliche Lösung. Detlef D. Pries



* Aus: Neues Deutschland, 17. November 2008


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