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Hinter den Glitzerfassaden von Baku

Menschenrechtsgruppen fordern eine kritische Beobachtung, lehnen einen Boykott aber größtenteils ab

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Der Schlagerwettbewerb »Eurovision Song Contest« (ESC) hat sein Halbfinale erlebt. Deutschlands »Star für Baku«, Roman Lob, fühlt sich gut aufgenommen in der Stadt. Menschenrechtler bewegt anderes. Ihre Kritik am Grand Prix betrifft sowohl die hohen Kosten als auch die politischen Missstände im Land. Die Regierung wiederum spricht angesichts dessen von einer Schmutzkampagne gegen Aserbaidshan.

Über 60 Häftlinge aus Gewissensgründen, Platz 123 im internationalen Ranking der Pressefreiheit - selbst Afghanistan schneidet besser ab - massive Behinderungen von Opposition und Zivilgesellschaft, deren Proteste regelmäßig mit Gewalt aufgelöst werden, Wahlen, bei denen demokratische Mindeststandards notorisch verfehlt und die Ergebnisse manipuliert werden. Um Menschenrechte ist es in Aserbaidshan, wo am Dienstag der Song Contest der Eurovision begann, schlecht bestellt. Am anderen Ufer des Kaspischen Meeres, vor allem in Turkmenistan, allerdings noch schlechter.

Doch darüber erregten sich bisher nur internationale Beobachter wie Reporter ohne Grenzen. Politik und Wirtschaft hatten gute Gründe wegzusehen. Denn es ist aserbaidshanisches Öl, das an der türkischen Mittelmeerküste in westliche Tanker gepumpt wird. Dort endet die BTC - die über 1700 Kilometer lange Rohrleitung Baku-Tbilissi-Ceyhan, die 2006 in Betrieb ging. Das Gas aus der Kaspi-Region - vor allem aus Aserbai᠆dshan - soll auch die Nabucco-Pipeline füllen, die Westeuropa ab 2014 unter Umgehung Russlands bauen will.

Deutsche Firmen lieferten nun auch Tontechnik und anderes an Ausrüstungen für den Sängerwettstreit der Starlets. Radikale Bürgerbewegte riefen zu dessen Boykott auf. Gleichwohl hatten die Bürger Europas bei der Runde 2011 in Düsseldorf »ganz urdemokratisch« ein Duo aus Aserbaidshan auf das oberste Treppchen des Siegerpodests gewählt und die Ex-Sowjetrepublik mit ihren neun Millionen Einwohnern im Südostkaukasus dadurch zur Gastgeberin des diesjährigen Ausscheids bestimmt.

Zwar initiierten aserbaidshanische Menschenrechtsgruppen mit Unterstützung westlicher Partner inzwischen per Internet eine Gegenveranstaltung: Singen für die Demokratie - die Clips sind auf »Youtube« zu sehen. Die Boykottaufrufe stießen indes selbst bei ihnen auf Unverständnis und Ablehnung. Zwar riefen sie die ausländischen Gäste - vor allem Medienvertreter - auf, mit wachen Augen hinter die Kulissen der Glitzerfassade zu schauen, finden es aber gleichzeitig durchaus in Ordnung, dass die Regierung die Gelegenheit nutzt, Aserbaidshan als neues internationales Tourismusziel in Szene zu setzen. Denn bisher war Aserbaidshan, das faszinierende Landschaften, Sehenswürdigkeiten aus über fünf Jahrtausenden und jede Menge Kultur zu bieten hat, für Westeuropa nur die Tankstelle der Zukunft oder gar ein weißer Fleck auf der Landkarte.

Zu Recht kritisieren Regimegegner allerdings den Größenwahn, mit dem das seichte Unterhaltungsprojekt angegangen wurde. Hunderte Kilometer Straßen wurden ausgebessert oder neu gebaut. Allein die Uferstraße am Kaspischen Meer ist inzwischen drei Kilometer länger und endet jetzt am Wettkampfobjekt: dem Kristallpalast. 45 000 Glitzersteine wurden in dessen Fassade verbaut und strahlen nach Einbruch der Dunkelheit in allen Farben des Regenbogens.

Parks und Gärten erhielten eine neue Bepflanzung, Häuserfronten einen neuen Anstrich. Auch auf dem erst vor einem Jahrzehnt modernisierten internationalen Flughafen in Baku ratterten bis vor kurzen noch die Presslufthämmer. Denn der Eurovision Song Contest ist eine Art Generalprobe für Olympia. Aserbaidshan hofft auf den Zuschlag für die Sommerspiele 2020, koste es, was es wolle.

Und es kostet viel: umgerechnet fast eine halbe Milliarde Euro. Allein der Kristallpalast, der nach dem Wettsingen als Sport- und Konzerthalle genutzt werden soll, verschlang etwa 100 Millionen Euro. Dabei liegt der monatliche Durchschnittsverdienst nur knapp über 350 Euro, und viele soziale Probleme bleiben seit Jahren ungelöst.

Von den mehr als eine Million Vertriebenen aus Karabach - einer vor allem von Armeniern bewohnten Region, die sich 1988 für unabhängig erklärte - hausen viele noch immer in Notunterkünften. An der Demarkationslinie des Waffenstillstands, der 1994 unter OSZE-Ägide ausgehandelt wurde, kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen. Ein Friedensvertrag ist nicht in Sicht: Russland unterstützt das verbündete Armenien, ebenso Frankreich und die USA mit Rücksicht auf die armenische Diaspora in ihren Ländern.

Wegen Karabach boykottiert Armenien auch den Song-Contest. Das Regime in Baku dagegen strapaziert den Konflikt als Vorwand für seine rigide Innenpolitik und das mit einigem Erfolg. Die Massen haben nicht vergessen, wann und wie Aserbaidshan auch die an Karabach angrenzenden Gebiete an den armenischen Erbfeind verlor: 1993, als die demokratische Volksfront regierte, das Land im Chaos zu versinken drohte und kurz vor einem Bürgerkrieg stand.

Für Stabilität und bescheidenen Wohlstand sorgte ein Antidemokrat: Haidar Alijew, zu Sowjetzeiten KP-Chef Aserbaidshans. Ihn verehrten die Massen schon zu Lebzeiten wie einen Halbgott, weshalb sich auch der Widerstand gegen Sohn Ilham, der 2003 übernahm, sehr in Grenzen hält.

Motor der aserbaidshanischen Protestbewegung sind wie in Russland Intellektuelle in den großen Städten. Ihnen fehlt bisher die Massenbasis, und das liegt vor allem daran, dass sie es partout nicht fertigbringen, ihre berechtigten Forderungen nach demokratischen Reformen mit sozialen Inhalten mehrheitsfähig zu machen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 24. Mai 2012

ESC und Medien: Keinerlei Spaßfaktor

Am 10. Mai 2011 gab sich Stefan Niggemeier, ESC-Fan und Betreiber eines jährlich wiederkehrenden Weblogs zum ESC, ganz locker: »Wir sehen uns in Baku« schickte er Thomas Schreiber, dem ARD-Teamchef des ESC, eine SMS aufs Mobiltelefon. Zwei Minuten später antwortete dieser: »No way«. Das war nach dem Auftritt des Vertreters Aserbaidshans im Halbfinale des letztjährigen European Song Contest. Thomas Schreiber sollte Recht behalten, wenn auch nicht im Sinne seiner ursprünglichen Bemerkung. Stefan Niggemeier bloggt zwar bereits seit geraumer Zeit mit seinem Kollegen Lukas Heinser aus Baku, doch die Unbeschwertheit früherer Jahre ist nur noch in ihrem gemeinsamen Videoblog bakublog.tv vorhanden.

Die deutsche Fan-Medien-Gemeinde des ESC, von der man nie so recht wusste, wie ernst sie selbst ihre Begeisterung für den Schlager nahm, hat ihre politische Unschuld verloren. In einem Land, in dem auch für das Party-Volk erkennbar Menschenrechte verletzt und die Pressefreiheit bedroht werden, mag sich das »Guildo-hat-euch-lieb«-Gefühl früherer Jahre nicht so recht einstellen. Das gilt auch für das Videoblog von Niggemeier und Heinser. Von dort führt ein Link direkt auf die Seite www.pressefreiheit-fuer-baku.de, und was dort zu lesen ist, hat wirklich keinen Spaßfaktor.

Dabei unternehmen die Behörden in Aserbaidshan offenbar einiges, um nach außen demokratisch zu erscheinen. Thomas Schreiber von der ARD jedenfalls erzählte der Zeitschrift »Stern« kürzlich, dass der Sender keinerlei Probleme mit der Akkreditierung seiner Mitarbeiter gehabt habe, und er berichtete, dass dies auch für Journalisten gelte, »die es in der Vergangenheit nicht immer so leicht hatten, in Aserbaidshan einzureisen«.

Für inländische Medienvertreter gilt dagegen weiterhin: No way!

Jürgen Amendt

(neues deutschland, Donnerstag, 24. Mai 2012)




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