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Das gefährliche Erbe von Saloglu

Nach dem Zerfall der Sowjetunion sprengte die russische Armee bei ihrem Abzug in Aserbaidshan eine riesige Munitionsbasis

Von André Widmer, Saloglu *

Tief im aserbaidshanischen Binnenland liegt die Ortschaft Saloglu. Draußen auf den Feldern, etwas abseits des kleinen Dorfes, lauern bis heute tödliche Gefahren.

Dort, wo die Landschaft immer karger wird und kaum ein Baum steht, warnen Schilder mit Totenkopfsymbolen vor drohendem Unheil im Boden. Schafherden ziehen umher auf der Suche nach ein paar Grashalmen. Ein paar Meter neben den gutmütig dreinschauenden Tieren stecken verrostete Raketen kopfüber in der Erde. Über 100 Menschen wurden über die Jahre schon zu Opfern - viele davon starben. Schuld daran sind die Überbleibsel einer Munitionsbasis.

Tausende Hektar Land mit Munition übersät

Saloglu liegt nahe der Grenzen zu Georgien und Armenien in einer flachen Tiefebene. Das karge Land gibt nicht viel her, der Fluss Kür (Kura) ist einige Kilometer entfernt. 1937 hatte die Rote Armee bei Saloglu eine Basis mit dem größten Munitionsdepot im Südkaukasus errichtet. Lange Zeit war das Gelände militärisches Sperrgebiet, all die Jahrzehnte wusste die Zivilbevölkerung kaum, was hinter den Drahtzäunen geschieht. Im August 1991, als sich der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidshanern zuspitzte, die um Berg-Karabach stritten, als die Republiken schließlich ihre Unabhängigkeit ausriefen, zog die Armee plötzlich ab. Riesige Mengen an Munition waren im Depot gelagert. Viel zu viel, als dass man sie auf einmal hätte abtransportieren können. Also griff die Armee zu einem ebenso unkonventionellen wie verheerenden Mittel: Sie sprengte die 138 Bunker, in der die explosive Ware lagerte, in die Luft.

In Saloglu und Umgebung wurden 4400 Hektar Land übersät mit Projektilen unterschiedlicher Größe, von Handgranaten über Geschosse bis zu Raketen. Doch nicht nur auf dem Boden, auch unter der Oberfläche finden sich jetzt Blindgänger. Ein gefährliches Erbe. Ein tödliches Erbe, das dem jungen aserbaidshanischen Staat hinterlassen wurde.

Auf dem rechten Auge sieht Metleb Nasibov nichts mehr. Das Augenlid bleibt geschlossen. Im Gesicht ist eine längliche Narbe zu sehen. Metleb krempelt den Ärmel des Hemdes zurück, eine weitere Wunde kommt zum Vorschein, am linken Unterarm hat er eine großflächige Delle. Metleb Nasibov ist eines der vielen Opfer dieses Erbes.

Heute trägt er einen einfachen Anzug. Er sitzt an einem Tisch. Nebenan läuft der Fernseher. Tee wird gereicht, das Nationalgetränk in Aserbaidshan. Metleb erzählt: Anfang der 90er Jahre diente er in der aserbaidshanischen Armee. Es waren keine einfachen Zeiten. In allen ehemaligen Sowjetrepubliken gestaltete sich das Leben hart. Lebensmittel waren knapp. Auch die politische Lage im Kaukasus war schwierig. Ab 1992 weitete sich der Konflikt um Berg-Karabach zum Krieg aus. Erst 1994 wurde ein Waffenstillstand unterschrieben. In der Zwischenzeit war Metleb Vater zweier Kinder geworden. Als er 1996 aus der Armee ausschied, schlug er sich zunächst mit diversen Jobs durch. Und wurde schließlich arbeitslos.

»Ich dachte, es sei Aluminium«

Wie viele andere begann Metleb, in der Region Saloglu Metall zu sammeln und zu verkaufen. An einem Morgen im Sommer 1998 verließ Metleb Nasibov sein Haus, um Metall aufzuklauben. Sein Heim liegt nur ein paar hundert Meter von den Feldern entfernt. An diesem Morgen fand er ein längliches Stück Metall, ein Rohr. »Ich dachte, es sei Aluminium«, sagt er. Wieder zu Hause, versuchte er es zu öffnen. In diesem Moment explodierte es. Vom Knall aufgeschreckt, eilte die Familie hinter das Haus. Dort fand sie Metleb, schwer verwundet, das Gesicht, beide Beine, ein Arm waren verletzt. Der Aufenthalt in der Klinik dauerte einen Monat.

Saloglus geografische Lage im Dreiländereck sollte auch Anfang des neuen Jahrtausends eine Rolle spielen: Die Gegend wurde zum Transitkorridor. 2004 begannen die Arbeiten am Bau der Ölpipeline Baku-Tbilissi-Ceyhan. Das brachte die staatliche Minenräumgesellschaft Anama in die Region Agstafa. Ihr oblag es, auf einer Länge von 32 Kilometern einen rund 50 Meter breiten Streifen bis in eine Tiefe von drei Metern von Blindgängern zu säubern. Die Rohrleitung sollte einen Meter unter den Boden, um Anschläge zu verhindern. An einer Stelle lag die für die Pipeline vorgesehene Trasse nur einen Steinwurf entfernt vom Gelände der ehemaligen Munitionsbasis. Rund 120 Projektile wurden damals im geplanten Pipelinebereich geborgen.

Nach Abschluss dieser Arbeiten blieb Anama in der Region. Im Dezember 2005 begann die Organisation mit der Räumung von Blindgängern im Areal um die Basis. Auch ökologische Gefahren gingen inzwischen von der Hinterlassenschaft der Militärs aus. Die alte Munition, die vielen Blindgänger, fingen an zu rosten. Einige enthalten weißen Phosphor. Ein perfides Material, das hochgiftig ist und tödliche Wirkung entfalten kann.

Bisher wurden fast 550 000 Blindgänger auf den 44 Quadratkilometern geräumt; 7082 mit weißem Phosphor. 250 verschiedene Munitionsarten wurden identifiziert. Inzwischen hat Anama eine Basis errichtet und beschäftigt um die 70 Angestellte, die meisten sind Minenräumer im Feld. Der Rest arbeitet in der Verwaltung, Küche und im Dienstleistungsbereich. Menschen aus der Gegend haben Arbeit bei Anama gefunden.

Blindgänger unter dünner Erdschicht

Die Basis der Minenräumer liegt in Sichtweite des ehemaligen sowjetischen Depots. Verlassene Wachtürme und einsturzgefährdete Dächer sind zu sehen. Das Betreten der Anlage ist verboten. Rund um die Gebäude liegen die Felder, die zur Räumung in 19 Sektoren eingeteilt wurden. Derzeit wird im Sektor 17 gearbeitet. Nachdem etwas Humus abgetragen ist, kommen die verrosteten Blindgänger zum Vorschein. Es ist, als wenn man Haut aufkratzt und darunter bösartige Wucherungen entdeckt.

Wenn die Blindgänger noch Zünder haben, werden sie an Ort und Stelle gesprengt. Andernfalls wird das Material eingesammelt und zum Sprenggelände gebracht. In Sektor 17 wurden auf 90 000 Quadratmetern bisher rund 7090 Blindgänger gehoben. Das Sprenggelände liegt etwa zwei Kilometer von der Basis entfernt hinter einer Anhöhe. Eine 15 Mann umfassende Sprengtruppe arbeitet dort. In einer drei Meter tiefen Grube wird die sorgfältig präparierte alte Munition versenkt. 10 000 Projektile, insgesamt 1,8 Tonnen, in zwei Schichten, wie bei einer Torte. Die Männer nutzen TNT für ihre Sprengungen.

Von den vier umliegenden Anhöhen führen je neun Kabel in die Senke. Die Explosionen, die ausgelöst werden, sind gewaltig. Das Gelände wird noch 24 Stunden nach der Sprengung überwacht und darf nicht betreten werden, da Nachfolgeexplosionen möglich sind.

Metleb Nasibov, das Blindgängeropfer, hatte übrigens inzwischen Glück. Er hat wieder eine Arbeitsstelle gefunden. Er sorgt jetzt für den Unterhalt auf der Anama-Basis. Das Räumungsprogramm wurde mittlerweile bis mindestens Ende nächsten Jahres verlängert. Denn es gibt noch viel zu tun in Saloglu.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2010


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