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Selbstbewusster Kaukasustiger

Aserbaidshan will nicht nur wegen seines Öl- und Gasreichtums umworben sein

Von Heiko Langner, Baku *

Aserbaidshan, die Republik am Kaspischen Meer, ist verhältnismäßig glimpflich durch die Weltwirtschaftskrise gekommen und gibt sich selbstbewusst als »Kaukasustiger«, der noch nicht gebührend respektiert wird.

In Baku strebt man nach Rekorden. Über der Stadt weht eine riesige Staatsflagge, 70 mal 35 Meter groß, deren Mast es schon ins Guinnessbuch geschafft hat. Seine 162 Meter machen ihn zum höchsten ungestützten Flaggenmast der Welt.

Rekordverdächtig war auch das aserbaidshanische Wirtschaftswachstum von weit über 20 Prozent – bevor es im Krisenjahr 2009 auf 9,5 Prozent absackte. Doch bereits in diesem Jahr soll das Bruttoinlandsprodukt wieder um rund 18 Prozent zulegen. In der öl- und gasreichen Republik rollt der Dollar, Arbeitslosigkeit und Armut sind rückläufig.

Das Wirtschaftssystem des Landes ist durch eine Mischung von staatlichen und privaten Unternehmen gekennzeichnet. Strategisch bedeutsame Bereiche wie eben die Erdöl- und Erdgasindustrie befinden sich in staatlichem Eigentum oder stehen unter staatlicher Aufsicht. Auch vor Eingriffen in die Privatwirtschaft schreckt die Regierung unter Präsident Ilham Alijew nicht zurück, wenn ihr dies notwendig erscheint. Ein Beispiel dafür ist die Rekommunalisierung des Personennahverkehrs in der Hauptstadt Baku.

Sonnenstrände und Wintersport

Das rasante Wachstum der Stadtbevölkerung hatte zur Folge, dass das Verkehrsaufkommen beständig zunahm, worauf sich etliche Aserbaidshaner mit kleinen Privatbussen selbstständig machten. Der Millionenmetropole drohte der Verkehrskollaps. Damit ist Schluss: Jetzt befördern wieder öffentliche Linienbusse die Fahrgäste zu stark subventionierten Preisen. Eine Busfahrt durch Baku kostet gerade 0,20 Manat (etwa 0,19 Euro). Fernfahrten ins Umland sind sogar noch billiger.

Buslinie 171 fährt ins rund 40 Kilometer entfernt gelegene Bilqah direkt am Kaspischen Meer. Hier soll in wenigen Jahren die kaspische Variante des türkischen Antalya entstehen. Ein modernes Strandbad gibt es bereits, gleich daneben entsteht ein Luxushotel. Anders als die verschmutzten Strände von Baku und Sumgait könnten klares, blaues Wasser und goldfarbener Sand Erholungsbedürftige aus aller Welt anlocken. Begüterte Russen sind jetzt schon da, was sich in gepfefferten Preisen niederschlägt. Es besteht kein Zweifel: der Turkstaat möchte auf die touristische Landkarte und investiert zu diesem Zweck größere Summen seiner Petrodollars in die Infrastruktur. Ausländisches Kapital und Know-how sind durchaus erwünscht. An den Hängen des Großen Kaukasus errichten österreichische Unternehmen beispielsweise ein gigantisches Wintersportzentrum.

Der Sheikh predigt Toleranz

»Der ist nicht normal«, spottet Fahrer Akif Bey über einen vorbeieilenden, langbärtigen Mann, der mit seinem streng religiös wirkenden Aussehen eine Ausnahmeerscheinung in Bakus Straßen ist. »Es sind die Fundamentalisten aller Religionen und nicht nur des Islam, die Zwietracht zwischen den Menschen säen und die Religion für ihre politischen Zwecke missbrauchen«, sagt Sheikhul-Islam Allahshukur Pashazadeh, der oberste geistliche Würdenträger aller kaukasischen Muslime. In der aserbaidshanischen Gesellschaft aber genieße religiöse Toleranz traditionell hohe Wertschätzung und sei fest verankert. Religionsfreiheit in einem säkularen Staat erfordere die Gleichberechtigung der Glaubensgemeinschaften und den regelmäßigen Dialog der Religionsvertreter. Neuestes Vorhaben des Sheikhs ist die Schaffung eines Beratungsgremiums für den interreligiösen Dialog auf der Ebene der Vereinten Nationen. In den GUS-Staaten existiert ein solches Gremium bereits, den Vorsitz teilt er sich mit dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche.

In Aserbaidshan selbst leben Muslime, Juden und Christen seit Jahrhunderten zusammen. Probleme gab es mit den Armeniern, allerdings nicht aus religiösen, sondern aus politischen Gründen. Anfang der 90er Jahre führten die unabhängig gewordenen Republiken Armenien und Aserbaidshan einen blutigen Krieg um Berg-Karabach, eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte autonome Region innerhalb Aserbaidshans. Die Armenier gewannen den Krieg, der über 30 000 Menschen das Leben kostete, und besetzten nicht nur Berg-Karabach, sondern auch weitere sieben umliegende Bezirke, insgesamt etwa 20 Prozent des aserbaidshanischen Staatsgebiets.

Offene Wunde Berg-Karabach

Berg-Karabach wurde zur unabhängigen Republik ausgerufen, bisher jedoch von keinem anderen Staat, nicht einmal vom »Mutterland« Armenien, anerkannt. Eine Friedenslösung kam trotz intensiver Vermittlungsbemühungen der OSZE nicht zustande, es gilt nur ein brüchiger Waffenstillstand.

Der Krieg brachte massenhafte Vertreibungen mit sich: Aus Armenien und den okkupierten Gebieten wurden über eine Million Aserbaidshaner vertrieben. Umgekehrt flüchteten etwa 350 000 Armenier aus Zentralaserbaidshan. Manche blieben auch, in Baku leben derzeit noch rund 20 000, ungefähr ein Zehntel der früheren armenischen Stadtgemeinde.

Einer von ihnen ist Lewon Khachatrian (Name geändert – H.L.). »Die Armenier müssen lernen, die Realität zu akzeptieren«, resümiert er rückblickend. Den Krieg um Berg-Karabach hätten sie nur dank einmaliger günstiger Umstände militärisch gewonnen, ökonomisch und demografisch habe Armenien jedoch gegen Aserbaidshan längst verloren.

Leute wie Khachatrian dürften in den Augen der Diaspora als Verräter an der »armenischen Sache« gelten. Denn er wäre bereit, sich auf das Angebot der aserbaidshanischen Regierung einzulassen, die Berg-Karabach größtmögliche Autonomie innerhalb Aserbaidshans zubilligen würde. Ein eigener, nicht überlebensfähiger Zwergstaat sei schließlich nicht das Maß aller Dinge, wichtig sei doch, ob die Karabach-Armenier selbst für ihre Sicherheit sorgen könnten. Kein gutes Haar lässt Khachatrian am »Karabach-Clan«, der seit geraumer Zeit in Armenien regiert und sich auf Kosten der Bevölkerung bereichere. Auch Moskau werde Berg-Karabach nicht als unabhängigen Staat anerkennen. »Russland würde damit ethnisch-separatistische Bestrebungen auf seinem eigenen Territorium ermutigen, und Aserbaidshan könnte sich in diesem Fall außenpolitisch den USA annähern.« Beides wäre nicht im russischen Interesse. Baku bräuchte folglich nur abzuwarten, bis immer mehr Armenier wegen der desolaten Wirtschaftslage ausgewandert seien, und könne Berg-Karabach eines Tages nahezu kampflos zurückgewinnen, glaubt Khachatrian.

Ernster Hinweis auf die Endlichkeit der Geduld

Wenige Kilometer entfernt, im aserbaidshanischen Außenministerium, scheint dagegen Geduld das größte Problem zu sein. »Das kann nicht ewig so weitergehen«, heißt es bedrohlich aus der Presseabteilung des Außenministeriums. »Armenien verschließt sich allen unseren Kompromissangeboten und stellt sogar bereits geschlossene Vereinbarungen in Frage.« Aserbaidshan habe das Völkerrecht auf seiner Seite, wolle zwar keine militärische Lösung, könne diese Option aber in Anbetracht der Blockadepolitik Jerewans auch nicht völlig ausschließen. »Ein unabhängiges Berg-Karabach werden wir jedenfalls niemals akzeptieren, die Armenier haben schon ihren eigenen Staat, die Republik Armenien«, heißt es.

Überdies gehe es den Armeniern in Wahrheit nicht um Selbstbestimmung für Berg-Karabach. Jerewan habe zu Beginn des Konflikts nicht umsonst versucht, das Autonomiegebiet direkt zu annektieren. Für die internationale Staatengemeinschaft sei dies im 21. Jahrhundert aber nicht mehr opportun, deshalb werde nunmehr das Selbstbestimmungsrecht als Instrument gegen die Nachbarländer benutzt, in denen größere armenische Minderheiten leben. Man wisse um die Bedeutung Russlands als Vermittler und empfinde Genugtuung über die objektiver gewordene Haltung Moskaus im Konflikt.

»Wir sehen uns eher als Teil Europas«

Trotz der unsicheren Aussichten herrscht im Alltag Bakus Normalität. Ein junger Punk mit Skateboard dreht auf dem spiegelglatten Heydar-Alijew-Platz, benannt nach dem Vater und Amtsvorgänger des jetzigen Präsidenten, seine Runden. »Der ist auch nicht ganz normal«, kommentiert Akif Bey, der einige Jahre in Berlin gearbeitet hat und den Anblick von Punkern durchaus gewöhnt ist. Schmunzelnd fügt er hinzu: »Zwar nicht normal, aber besser als der religiöse Spinner von vorhin. Iran ist für die Aserbaidshaner kein Beispiel, wir sehen uns eher als Teil Europas.«

* Aus: Neues Deutschland, 21. Oktober 2010


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