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Der südostasiatische Spannungsbogen

Das Jahr 2004 im Rückblick: Quer durch den Subkontinent erstreckt sich eine der größten Krisenregionen in der Welt

Von Hilmar König, Neu Delhi*

Von der afghanisch-pakistanischen Grenze, quer über den südasiatischen Subkontinent bis ins südostasiatische Indonesien erstreckt sich seit Jahrzehnten eine der größten Unruheregionen der Welt. Soziale Probleme, Unterentwicklung und Vernachlässigung ganzer Landstriche, ethnische Diskriminierung und linguistische Fragen, Überbevölkerung, illegale Immigration, Unabhängigkeitsbestrebungen und nicht zuletzt religiöser Extremismus, der in terroristische Militanz ausartet, sind Faktoren für die permanenten Krisenerscheinungen.

Islamabad an US-Seite

Im afghanisch-pakistanischen Stammesgebiet der Paschtunen und Belutschen suchen und finden Taliban und Al-Qaida-Kämpfer nach wie vor Unterschlupf. Seit Pakistans Militärmachthaber Pervez Musharraf die Seiten wechselte und mit den US-Amerikanern im »globalen Antiterrorfeldzug« kollaboriert, sind Islamabads Soldaten auch in diesen Stammesgebieten aktiv und verletzen damit uralte Traditionen. Die Gefechte, an denen nicht selten Stammesmilizen beteiligt sind, fordern zwar einen hohen Blutzoll, führten bislang aber nicht dazu, Taliban und Al Qaida zu besiegen. Und es gelang auch nicht, die in diesem Gebiet wahrscheinlich untergeschlüpften Osama bin Laden und Mullah Omar zu fassen. Musharrafs diesbezügliche Politik wird von der islamischen Opposition (MMA) und beträchtlichen Teilen der muslimischen Bevölkerung abgelehnt.

An der Ostgrenze sieht sich Pakistan seit über 50 Jahren in einen anderen Konflikt verwickelt – den Streit um Kaschmir. Um das seit 1948 in einen pakistanischen und einen indischen Teil gespaltene Gebiet entbrannten bereits drei Kriege zwischen den Nachbarn. Seit Ende der 80er Jahre kämpfen muslimische Rebellen, von Pakistan unterstützt, im indischen Jammu und Kaschmir für Unabhängigkeit bzw. für Anschluß an Pakistan. Mindestens 20000 Menschen fielen dieser Auseinandersetzung schon zum Opfer. Auch wenn die Rebellen ihre Operationen nicht eingestellt haben, hat sich das Ringen um eine Lösung des Konflikts in den letzten anderthalb Jahren doch mehr und mehr auf die politisch-diplomatische Ebene verlagert. Der Durchbruch wurde zwar noch nicht erzielt, aber eine Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen, auch im militärischen und nuklearen Bereich (beide Staaten demonstrierten mit den Nukleartests im Mai 1998 ihren Status als Atommächte), hat zu einem deutlich entspannten bilateralen Verhältnis geführt. Islamabad sieht mit gewisser Berechtigung in der Lösung des Kaschmir-Problems den Schlüssel zu stabilen Beziehungen guter Nachbarschaft mit Indien.

Unruhiger Nordosten

Jammu und Kaschmir sind nicht Indiens einzige »Sorgenkinder«. Der gesamte Nordosten, seit der Unabhängigkeit im Jahre 1947 ökonomisch und sozial vernachlässigt, gehört dazu. Assam, Manipur, Nagaland sind nur einige Beispiele. In diesen Bundesländern sind starke militante Widerstandsbewegungen tätig, deren Forderungen von intensivierter Wirtschaftsentwicklung und ethnischer Gleichberechtigung bis zur Autonomie oder gar Unabhängigkeit reichen. Ein Grundproblem ist, daß »Fremde« – illegal aus Bangladesch zugewanderte oder aus Indiens Hindigürtel stammende – die Einheimischen aus vielen Bereichen gedrängt haben, Wirtschaft und Handel kontrollieren, sich der Rohstoffe wie Tee, Holz, Erdöl und Kohle bedienen, aber kaum in die örtliche Industrie investieren. Unter der Regierung der Mehrparteien-Koalition Vereinten Progressiven Allianz wächst nun wieder die Hoffnung der Nordostler, daß durch Neu-Delhis »Go-East«-Politik (vor allem Anbindung an die ASEAN) ihre Region als Brücke zu Südostasien einen Entwicklungsschub erfährt und damit zahlreichen militanten Gruppen der Boden entzogen würde. Erschwert wird die Lösung dieses Problems dadurch, daß Bangladesch trotz gegenteiliger Beteuerungen auf seinem Territorium Ausbildungslager der indischen Rebellen duldet und diese bis in jüngste Vergangenheit auch von Myanmar (Burma) toleriert, wenn nicht gar aktiv unterstützt wurden.

Myanmar wiederum hat seine eigenen Schwierigkeiten mit ethnischen Gruppen. Außerdem versucht das seit 1962 herrschende Militär, seine Macht durch unterschiedlichste Manöver zu verewigen und den Spielraum der Demokratiebewegung so gering wie möglich zu halten. Deren Führerin Aung San Suu Kyi steht unter Hausarrest, der mindestens bis zum Herbst nächsten Jahres andauern wird. Für 2006 rechnet der »Staatsrat für Frieden und Entwicklung«, wie sich die Junta nennt, damit, den ASEAN-Gipfel in Yangon zu veranstalten. Aber das wird gewiß nur möglich, wenn sich Frau Suu Kyi bis dahin auf freiem Fuß befindet. Unter den 4000 kürzlich freigelassenen Gefangenen in Myanmar befanden sich nicht mehr als 20 politische Häftlinge. Das beweist, daß das Regime keinerlei Interesse an einem wirklichen Systemwandel hat.

Monarchie in Bedrängnis

Nicht weit von Indiens Nordosten entfernt kämpft in Nepal eine Monarchie ums Überleben. Seit sechs Jahren wird König Gyanendra von maoistischen Rebellen im sogenannten Volkskrieg attackiert. Verhandlungsbemühungen scheiterten immer wieder, weil der Monarch nicht gewillt ist, einerseits die feudalen Strukturen der verkrusteten Gesellschaft antasten zu lassen, an die seine Macht gekoppelt ist, und andererseits das politische System so zu modernisieren, daß eine parlamentarische Demokratie funktionieren kann. Die maoistische Guerilla verfügt inzwischen über beträchtlichen Anhang in den ländlichen Gebieten, wo die Mehrheit der Bevölkerung in bitterer Armut lebt.

An der Südspitze des Subkontinents schwelt der ethnisch-soziale Konflikt zwischen der tamilischen Minderheit und der singhalesischen Mehrheit Sri Lankas, der seit 1983 über 60000 Menschenleben forderte. Seit mehr als zwei Jahren ruhen, Dank norwegischer Vermittlung, die Waffen, was der geplagten Bevölkerung, vor allem im tamilischen Nordosten der Insel, wieder Zuversicht auf eine Perspektive gegeben hat. Doch es ist ein trügerischer »Nichtkriegszustand«. Nach sechs Verhandlungsrunden zwischen den militanten tamilischen Befreiungstigern (LTTE) und der Regierung in Colombo geriet der Dialog in eine Sackgasse.

Abschied vom »Paradies«

Das mehrheitlich buddhistische Königreich Thailand, das bislang als von inneren Konflikten weitgehend freies Paradies galt, erlebte in diesem Herbst Proteste der im Süden lebenden malaisch-muslimischen Minderheit und den Ausbruch von Gewalttätigkeiten gegen sie. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte, das den Tod von über 100 Menschen verschuldete, offenbarte, wie weit Thailand davon entfernt ist, eine Insel der Glückseligkeit im turbulenten Südostasien zu sein. Das gleiche trifft auf den ASEAN-Nachbarn Indonesien zu. Das Netzwerk der extremistischen Jamaa Islamiya scheint viel verzweigter zu sein, als die Regierung in Jakarta und die Behörden zuzugeben gewillt sind. Mehrere Terroranschläge gegen touristische Einrichtungen sowie gegen Botschaftsgebäude belegten die Entschlossenheit der »Gotteskrieger«, sich »Überfremdung« und »westlichen Einflüssen« zu widersetzen. Aber das ist nur ein Aspekt in der politischen Landschaft des Vielvölkerstaates, aus dessen Verband sich etliche ethnische und religiöse Gruppen lösen möchten. Die bisherigen Regierungen vermochten diese Tendenzen nur mit militärischer Gewalt zu unterdrücken.

* Aus: junge Welt, 21. Dezember 2004


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