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Staat als Kidnapper

Australiens Regierung entschuldigt sich für Zwangsdoptionen im vergangenen Jahrhundert

Von Thomas Berger *

Die australische Premierministerin Julia Gillard hat sich am Donnerstag vor dem Parlament in Canberra für Hunderttausende Zwangsadoptionen im 20. Jahrhundert entschuldigt. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, daß etwa 250000 Kinder seit den zwanziger Jahren gegen den Willen ihrer Mütter auf staatliche Anweisung zur Adoption freigegeben worden waren. Vor allem zwischen 1950 und dem Ende der siebziger Jahren war dies in Australien übliche Praxis.

Es ist das zweite große »Sorry« einer australischen Regierung, nachdem sich Gillards ebenfalls sozialdemokratischer Amtsvorgänger Kevin Rudd bereits für die von Staats wegen angeordnete massenhafte Wegnahme von Aborigines-Kindern in früheren Jahrzehnten entschuldigt hatte, die in Heimen bzw. zur »Assimilation« in weißen Pflegefamilien landeten.

Bei den Betroffenen, um die es aktuell geht, handelt es sich um die Kinder unverheirateter und oftmals noch minderjähriger Mütter. Der damals herrschenden Sozialmoral zufolge sollten diesen »ordentliche« Familien­umstände zum Aufwachsen geboten werden, weshalb sie der Staat mit Hilfe von Krankenhäusern und sozialen Organisationen selbst unter Beugung geltender Gesetze in die Obhut von Adoptiveltern gab. Jahrelang wußten viele heute 30- bis 40jährige gar nicht, daß sie mit den Familien, in denen sie aufwuchsen, biologisch gar nicht verwandt sind. Umgekehrt war nur für wenige der um ihre Kinder beraubten Mütter möglich herauszufinden, wo ihre Söhne und Töchter verblieben waren.

In Australien spricht man heute von einer »lost generation«. Die ihren zumeist minderjährigen Müttern weggenommenen Kinder bilden eine Gruppe, die eine sechsstellige Zahl ausmacht. Eine im November 2010 eingesetzte Sonderkommission des Senats, der zweiten Kammer des australischen Parlaments, hat sich mit dem düsteren Kapitel jüngerer Geschichte befaßt. Daß Julia Gillard die regierungsamtliche Entschuldigung in dieser Form aussprechen würde, war seit Dezember ausgemacht.

Vor allem zu den Jahren zwischen 1961 und 1969 sind die statistischen Angaben dürftig, zu den übrigen Zeiträumen hat die Kommission Daten aus verschiedenen Archiven zusammengetragen. Bis zu 10000 betrug die Gesamtzahl der Adoptionen pro Jahr (auch wenn sich der Wert zumeist eher zwischen 5000 und 7000 bewegte), und bei einem großen Teil davon waren die leiblichen Mütter mit diesem Schritt alles andere als einverstanden. Aus dem seinerzeit größten Krankenhaus des Bundesstaates Victoria ist bekannt, daß das Klinikpersonal dort in 15 bis 30 Prozent der Fälle von Geburten durch minderjährige Mütter selbst die Abgabe an Adoptiveltern organisierte. Sonst waren es neben staatlichen Stellen vor allem christliche Hilfsorganisationen, die sich im Zuge geltender moralischer Normen noch damit brüsteten, ein gutes Werk getan zu haben.

»Unethisch und in vielen Fällen illegal« seien die Verfahren gewesen, stellt Julia Gillard in klaren Worten fest. Gegenüber der Senatskommission hatten beraubte Mütter ausgesagt, wie sie teils unter Drogen gesetzt, teils ihre Unterschriften unter den Einwilligungserklärungen zur Adoption einfach gefälscht worden waren. Vor zahlreichen anwesenden Betroffenen sprach die Premierministerin von einem »Erbe des Schmerzes und des Leidens«, das diese »beschämende« Praxis ausgelöst habe. Daß die fünf Millionen Australische Dollar, die jetzt zur Verfügung gestellt werden, das begangene Unrecht nicht einmal ansatzweise gutmachen können, ist allen bewußt. Es handelt sich vielmehr um eine konkrete Summe, mit der Betroffenen der Zugang zu therapeutischer Hilfe erleichtert oder Unterstützung gewährt werden soll, damit voneinander getrennte Mütter und Kinder einander finden können. Mit der »Sorry-Rede« der Premierministerin ist der australische Nationalstaat nun die letzte Instanz, die sich in solcher Weise entschuldigt hat – in den einzelnen Teilstaaten und Unionsterritorien ist dies bereits geschehen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 22. März 2013


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