Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Vertröstet und ignoriert

Bangladesch: Mehrzahl der Betroffenen der Rana-Plaza-Katastrophe weiter ohne Hilfe oder Kompensation. Neues Abkommen für mehr Arbeitsschutz

Von Thomas Berger *

Ein halbes Jahr ist es her. Da stürzte am Rande von Dhaka das »Rana Plaza« wie ein Kartenhaus zusammen und begrub alle in seinen Mauern schuftenden Textil­arbeiterinnen unter sich. Der 24. April gilt als Tag der schlimmsten Katastrophe in der Wirtschaftsgeschichte von Bangladesch – und seitdem tragen die Betroffenen noch immer schwer an den Folgen. Jüngste Untersuchungen ergaben: Die meisten Überlebenden stehen weiterhin ohne Entschädigungszahlungen oder sonstige finanzielle Unterstützung da. Nicht nur die Aufarbeitung des Desasters und die Suche nach dessen Ursachen kommen nur schleppend voran. Auch mit notwendigen Konsequenzen tut man sich schwer, beispielsweise der Implementierung neuer Sicherheitsmechanismen für die Arbeiterinnen und Arbeiter in Bangladeschs Textilbranche.

1129 Menschen kamen an jenem Apriltag ums Leben, als das achtgeschossige Bauwerk in sich zusammenbrach. Hunderte weitere wurden verletzt. Für die Überlebenden und ihre Angehörigen ist nicht nur der Verdienst­ausfall existentiell gefährdend. Auch fallen Kosten für immer noch notwendige medizinische Behandlungen und Medikamente an, die sich die meisten Betroffenen nicht leisten können. Sie mußten als Billigjobber unter extrem schlechten physischen und materiellen Bedingungen arbeiten. Das als Fabrikanlage genutzte Gebäude war illegal errichtet worden, selbst grundlegende Sicherheitserfordernisse blieben aus Kostengründen unberücksichtigt. Es gab keine Fluchtwege, die Statik des Gebäudes schien niemand auch nur grob überprüft zu haben. Die Arbeiterinnen und Arbeiter standen trotz schon aufgetretener Risse im Mauerwerk allenfalls vor der Wahl zwischen Verlust ihres Erwerbsjobs und der Hoffnung, alles möge gutgehen. Sie mußten und müssen von dem leben, was der tägliche Lohn bringt.

Lebensgefährliche Zustände

Die britische Hilfsorganisation Action Aid hat für eine umfassende Studie zu dem Problem mit rund zwei Dritteln aller Betroffenen gesprochen. Die Ergebnisse sind eine Schande für alle Auftraggeber und Profiteure. Im Mindestfall hätten sie den Verunglückten Überbrückungshilfe leisten müssen. Lediglich der irische Billighersteller Primark zahlte an 550 Personen bisher umgerechnet 191 US-Dollar (136 Euro) pro Monat und will nach Konzernangaben diese Zahlungen an noch nicht wieder Arbeitsfähige auch die kommenden drei Monate fortführen. Zudem erklärte Primark am Donnerstag, auch langfristige Entschädigungszahlungen leisten zu wollen. Dazu müßten jedoch noch Details geklärt werden. Andere Firmen stellen sich dieser Verantwortung bisher nicht: 94 Prozent der durch die Mitarbeiter von Action Aid Befragten gaben an, von ihren Arbeitgebern noch keinen Taka Krankengeld, Entschädigung oder sonstige Zahlungen erhalten zu haben. Die Betriebe, bei denen sie beschäftigt waren, produzierten für 28 internationale Marken.

Die Tatsache wiegt umso schwerer, als die Mehrheit der Betroffenen – überwiegend Frauen – noch nicht wieder arbeiten kann. 92 Prozent der Umfrageteilnehmer ist noch zu Hause, entweder weil physische Verletzungen und Schmerzen so groß sind, daß sie den Belastungen des Jobs nicht gewachsen sind (einige sind durch den Verlust von Gliedmaßen auch dauerhaft behindert), oder aber weil das Trauma weiter nachwirkt. Auch Reshma Begum (19), die wie durch ein Wunder seinerzeit nach 17 Tagen unter den Trümmern lebend gefunden wurde, klagt nach wie vor über Alpträume.

17 Tage überlebt

So eine Katastrophe dürfe sich in keinem Fall wiederholen, waren sich im April alle Verantwortlichen in schönen Worten einig. Doch effektiv hat sich wenig zur Verbesserung von Arbeitsschutz und -bedingungen getan. Das ist nicht einfach nur ein Vorwurf lokaler wie internationaler Nichtregierungsorganisationen, sondern belastbare Tatsache. Dies illustrierte der Brand in einer Textilfabrik, bei dem in der ersten Oktoberhälfte wiederum mindestens neun Menschen starben. Als kleiner Fortschritt darf nun gewertet werden, daß sich die Regierungen Großbritanniens und der Niederlande zur Finanzierung eines dreijährigen Maßnahmenplans bereit erklärt haben, der unter Federführung Bangladeschs und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) steht. In der Laufzeit sollen insgesamt 1000 Textilfabriken hinsichtlich ihrer Arbeitsschutzstandards unter die Lupe genommen werden.

Die dafür geplanten 24 Millionen Dollar kommen aus London und Amsterdam. Im Visier sind dabei ausdrücklich auch Fertigungsstätten von Unternehmen, die nicht zu jener Gruppe von Konzernen gehören, die sich im Mai in einem auf internationalen Druck zustande gekommenen Grundsatzabkommen zu stärkeren Maßnahmen und Kontrollen angesichts der Zustände in den Fabriken ihrer Zulieferbetriebe verpflichtet hatten. Beides, die Vereinbarung aus dem Frühsommer und die jetzige Initiative von ILO und Bangladeschs Regierung, sollen in der Umsetzung Hand in Hand gehen und dabei möglichst Überwachungslücken schließen. Schlupflöcher gibt es noch immer genug – dies zeigte der jüngste Brand. Schließlich ist die Textilbranche für die Profiteure eine Goldgrube: Auf den Sektor entfallen drei Viertel aller Exporte des südasiatischen Landes im Gesamtwert von schätzungsweise 22 Milliarden Dollar.

* Aus: junge Welt, Montag, 28. Oktober 2013


Zurück zur Bangladesch-Seite

Zurück zur Homepage