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Schleichende Vergiftung

Mediziner weisen seit Jahren auf Arsenproblem in Bangladesch hin. Eine Lösung, toxischen Verbindungen im Trinkwasser beizukommen, ist nicht in Sicht

Von Thomas Berger *

Bis zu 77 Millionen Einwohner Bangladeschs sind einer schleichenden Vergiftung ausgesetzt. Eine neue Studie von Medizinern über den Zeitraum von 2000 bis Februar 2009, deren Ergebnisse jetzt vorgelegt wurden, macht deutlich, daß das in dem südasiatischen Land seit längerem bekannte Problem weiterhin besteht. Über das normale Trinkwasser werden tagtäglich Mengen an Arsen aufgenommen, die zum größten Teil weit über den Unbedenklichkeitsgrenzwerten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegen. Teilweise ist auch der Reis, Grundnahrungsmittel Nummer eins, kontaminiert.

Die Erkenntnisse, die dieser Tage über das medizinische Wissenschaftsjournal The Lancet publiziert wurden, sind nicht neu. Die Untersuchung an rund 12000 Menschen über ein Jahrzehnt untermauert lediglich, unter welcher Gefahr die übergroße Mehrheit der Landesbevölkerung lebt. Denn was in einem Teil der Hauptstadt Dhaka gilt, läßt sich auch für den Rest Bangladeschs hochrechnen. Bis auf wenige Ausnahmen nehmen auch dort, egal ob ländliche oder urbane Umgebung, die Menschen das Arsen über kontaminiertes Grundwasser auf.

Es gibt niemanden, dem für den faktischen Skandal der größten Massenvergiftung auf dem Erdball direkt die Schuld zu geben wäre. Schließlich war es die WHO selbst, die beginnend in den siebziger Jahren, vermehrt aber zwischen 1980 und 1990 mit Hilfe der Regierung Bangladeschs, des Kinderhilfswerks UNICEF und weiterer Partner überall in dem südasiatischen Land Tiefbrunnen bohren ließ. Mit dem Anzapfen des Grundwassers zwischen fünf und 50 Metern sollte die vorher übliche Nutzung von schmutzigem Oberflächenwasser als Trinkwasser unterbunden werden. Das Brunnenprojekt wurde zunächst berechtigt als großer Erfolg im Kampf gegen Durchfall- und andere Erkrankungen gefeiert. Bis zu zehn Millionen Brunnen sind seit dem Start der Initiative entstanden.

Niemand hatte seinerzeit aber darauf geachtet, intensiver die Qualität des nun geförderten Grundwassers zu untersuchen. Arsen kommt in der Natur generell und an bestimmten Stellen verstärkt vor. Im Gangesdelta, das weitgehend mit dem Staatsgebiet Bangladeschs identisch ist, ist dies in besonderem Maße der Fall. Seit der letzten Eiszeit vor rund 15000 Jahren hat der größte Strom Südasiens, der im Himalaja entspringt, enorme Mengen des Stoffes aus dem Hochgebirge herausgespült und in der Mündungsregion abgelagert. Lange war das Arsen gebunden, wird in jüngerer Vergangenheit aber vermehrt freigesetzt. Grund sind die Mikroorganismen im Boden und chemische Reaktionen, insbesondere zwischen Eisen- und Sauerstoffverbindungen, an die das Arsen gekoppelt ist.

Seit der zweiten Hälfte der Neunziger hat es immer wieder Studien gegeben, die alarmierten auslösten. Im Mai 1997 berichtete ebenfalls The Lancet über eine Konferenz in Delhi, wo auf Initiative der WHO Fachleute über das Problem berieten. Das Institut für Umweltfragen einer Universität im ostindischen Kalkutta (heute Kolkata) hatte ermittelt, daß mindestens 220000 Menschen in Bangladesch und dem angrenzenden indischen Unionsstaat Westbengalen unmittelbar an Krankheiten litten, die auf die Arsenvergiftung zurückzuführen wären. Insgesamt seien 38 Millionen betroffen. Spätere Studien waren sich weitgehend einig, daß die Zahl derer, die der akuten Gefahr ausgesetzt sind, sogar doppelt so hoch liegt. Schon im August 2007 war von 77 Millionen die Rede, davon 50 Millionen, deren Trinkwasser mit mehr als zehn Mikrogramm pro Liter belastet sei. Bei weiteren 27 Millionen betrage die Kontamination sogar mindestens 50 Mikrogramm pro Liter. Früher galt der erstgenannte Wert als Unbedenklichkeitsgrenze. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse haben die Marke aber sogar auf 1,7 Mikrogramm pro Liter heruntergeschraubt - was die extreme Gesundheitsgefährdung der Betroffenen verdeutlicht. Arsen löst verschiedene Arten von Krebs in Nieren, Lunge und Blase aus, führt zu Gangränen und bei Kleinkindern auch zu bleibenden Hirnschädigungen.

Vor neun Jahren hatten japanische und einheimische Wissenschaftler in einem Gemeinschaftsprojekt ergründet, daß die Unterernährung, unter der viele Einwohner Bangladeschs leiden, die Anfälligkeit für Schädigungen noch vergrößert. 2009 wiesen Schweizer Forscher einmal mehr nach, daß viele Menschen den Giftstoff sogar doppelt zu sich nehmen. Denn bei der Bewässerung, die in der Wachstumsphase der Pflanzen unerläßlich ist, setzt sich gelöstes Arsen auch im Reis fest. Zwar variiert diese Zusatzbelastung je nach Jahreszeit, wird der Giftstoff durch den Monsunregen zum Teil herausgewaschen. Das ändert aber nichts an der grundlegenden Tatsache, daß auch das Grundnahrungsmittel oftmals kontaminiert ist.

Eben weil das Problem beinahe das ganze Land umfaßt und auf ein natürlich auftretendes Phänomen zurückgeht, gibt es keine einfachen, schnellen Lösungen. Der Skandal liegt allerdings darin, daß sich seit mindestens einem Jahrzehnt trotz jeder Menge zweifelsfreier Daten im Grunde noch nichts getan hat. Unter den 11746 Betroffenen in der aktuellen Studie (im Alter zwischen 18 und 75 Jahren) fanden die Mediziner 407 Todesfälle, die unmittelbar auf das jahrelange Wirken von Arsen zurückzuführen sind.

* Aus: junge Welt, 28. Juni 2010


Arsenic exposure from drinking water, and all-cause and chronic-disease mortalities in Bangladesh (HEALS): a prospective cohort study

Summary **

Background
Millions of people worldwide are chronically exposed to arsenic through drinking water, including 35--77 million people in Bangladesh. The association between arsenic exposure and mortality rate has not been prospectively investigated by use of individual-level data. We therefore prospectively assessed whether chronic and recent changes in arsenic exposure are associated with all-cause and chronic-disease mortalities in a Bangladeshi population.

Methods
In the prospective cohort Health Effects of Arsenic Longitudinal Study (HEALS), trained physicians unaware of arsenic exposure interviewed in person and clinically assessed 11 746 population-based participants (aged 18--75 years) from Araihazar, Bangladesh. Participants were recruited from October, 2000, to May, 2002, and followed-up biennially. Data for mortality rates were available throughout February, 2009. We used Cox proportional hazards model to estimate hazard ratios (HRs) of mortality, with adjustment for potential confounders, at different doses of arsenic exposure.

Findings
407 deaths were ascertained between October, 2000, and February, 2009. Multivariate adjusted HRs for all-cause mortality in a comparison of arsenic at concentrations of 10·1--50·0 ?g/L, 50·1--150·0 ?g/L, and 150·1--864·0 ?g/L with at least 10·0 ?g/L in well water were 1·34 (95% CI 0·99--1·82), 1·09 (0·81--1·47), and 1·68 (1·26--2·23), respectively. Results were similar with daily arsenic dose and total arsenic concentration in urine. Recent change in exposure, measurement of total arsenic concentrations in urine repeated biennially, did not have much effect on the mortality rate.

Interpretation
Chronic arsenic exposure through drinking water was associated with an increase in the mortality rate. Follow-up data from this cohort will be used to assess the long-term effects of arsenic exposure and how they might be affected by changes in exposure. However, solutions and resources are urgently needed to mitigate the resulting health effects of arsenic exposure.

** Source: www.thelancet.com


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