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Verblaßte Visionen

Bangladesch: Vor 35 Jahren wurde der "Vater der Nation", Sheikh Mujibur Rahman, ermordet. Millionen Menschen warten bis heute vergeblich auf die "goldene" Zeit

Von Hilmar König *

Am 15. August 1975 putschte in Bangladesch das Militär und ermordete den Nationalhelden Sheikh Mujibur Rahman. Der hatte unerschrocken für die Unabhängigkeit des damaligen Ostpakistan vom Militärregime Pakistans gekämpft. Am 16. Dezember 1971 war dieses Ziel erreicht. Die Hoffnungen der Millionen Menschen in der proklamierten Volksrepublik Bangladesch richteten sich auf ein Leben frei von Unterdrückung und Ausbeutung, auf sozialökonomischen Fortschritt. Der linke Sozialdemokrat Rahman nährte diese Erwartungen und ließ 1972 eine Verfassung in Kraft setzen, die Nationalismus, Sozialismus, Demokratie und Säkularismus zu Grundelementen des Staates erklärte. Gegen diese Ausrichtung und das enge Verhältnis zum großen Nachbarn Indien, der den Befreiungskampf der ostbengalischen Brüder tatkräftig unterstützt hatte, putschten konservative Kreise in den Streitkräften. Sheikh Mujibur Rahman und der größte Teil seiner Familie wurden getötet. Es folgten weitere vom Militär inszenierte Staatsstreiche.

Obwohl die Generäle die offizielle Staatsbezeichnung »Volksrepublik« beibehielten, ließen sie diese zu einer islamischen Republik umgestalten. Es wurden religiös ausgerichtete Parteien zugelassen und der Begriff Sozialismus landete im Papierkorb. In der Präambel der Verfassung steht seitdem eine Lobpreisung des allmächtigen Allah. Erst seit ein paar Wochen befaßt sich ein von Premierministerin Sheikh Hasina Wajed, der Tochter Mujibur Rahmans, eingesetzter parlamentarischer Ausschuß mit den Änderungen, die wiederholt an der progressiven Verfassung von 1972 vorgenommen wurden. Man darf gespannt sein, wie weit es zu einer Wiederannäherung an dieses Gesetzeswerk kommen wird. Premier Wajed, die die in der Regierungskoalition dominierende Awami Liga führt, will damit auf alle Fälle »den Geist des Befreiungskrieges von 1971 wiederbeleben«. Das Volk solle die Früchte der Demokratie ernten, und »illegalen Machtübernahmen«, zum Beispiel durch Verhängen des Kriegsrechts, soll ein Riegel vorgeschoben werden. Zum 35. Todestag Mujibur Rahmans immerhin ein löbliches Vorhaben.

Freilich kann es die brennenden sozialen und politischen Probleme nicht übertünchen. Erst in dieser Woche kam es zu landesweiten Protesten gegen die »Elektrokrise«. Es besteht ein Defizit von 2000 Megawatt Elektroenergie. Unter extremer Sommerhitze kommt es deshalb zu stundenlangen Stromabschaltungen.

In vielen Städten gingen die Menschen auf die Straße, besetzten Büros der Strombehörde, blockierten Straßen und Eisenbahnstrecken, stürmten auf Kraftwerksgelände und zündeten Autoreifen an. Es gab über hundert Verletzte und Innenministerin Sahara Khatun kündigte noch härteres Vorgehen der Polizei an, wenn die »öffentliche Ordnung durch Proteste wegen Strom-, Wasser- und Gasproblemen untergraben wird«. Die Regierungschefin versicherte, gerade jetzt im begonnenen Fastenmonat Ramadan alles zu versuchen, um die Versorgung mit Strom, Wasser und Gas zu gewährleisten. Ohnehin besitzen nur 40 Prozent der fast 160 Millionen Bangladeschi einen Stromanschluß.

Tiefe Unzufriedenheit herrscht auch unter den 3,5 Millionen überwiegend weiblichen Textilarbeitern. Dieser Sektor, aus dem drei Viertel aller Exporte Bangladeschs kommen, scheffelte im Vorjahr einen Gewinn von umgerechnet zwölf Milliarden US-Dollar, speist aber traditionell seine Beschäftigten mit Hungerlöhnen ab und ist deshalb für ausländische Großunternehmen wie H&M, KiK, Wal-Mart, Tesco, Levi Strauss oder Carrefour ein höchst attraktiver Partner. Streiks und Demonstrationen der Textilarbeiterinnen (jW berichtete) führten schließlich dazu, daß Ende Juli die Regierung eine Erhöhung der monatlichen Mindestlöhne von 1660 Taka (etwa 19 Euro) auf 3000 Taka (34 Euro) anordnete. Doch der Kampf um wenigstens 5000 Taka Monatslohn, um Urlaub, Krankengeld und um die Anerkennung von Gewerkschaften geht weiter.

Damit nicht genug. Nun bringt auch die oppositionelle Hauptkraft, Bangladesh Nationalist Party (BNP), ihre Anhänger auf die Straße. Am vergangenen Montag veranstaltete sie eine Antiregierungsdemonstration und präsentierte 13 Grundforderungen, darunter Preissenkungen und die Streichung aller Abkommen mit Indien. BNP-Chefin Khaleda Zia, eine eingefleischte Rivalin der Premierministerin, bezeichnete die jüngsten Abkommen mit Indien über den Import von Elektrizität und einen Kredit über eine Milliarde Dollar zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten als »Versklavungspakte«. Die Industrie- und Handelskammer hingegen lobte die Abkommen als fair und großzügig.

Obwohl Bangladesch seit den 1990er Jahren durchschnittliche Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts von fünf Prozent aufweist, von denen die Mittelklasse am meisten profitiert, gehört es global noch immer zu den ärmsten Ländern. 49 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. 48 Prozent der Kinder sind unterernährt. Im Globalen Hungerindex liegt es auf Position 67 von 84 Staaten. Arbeitslosigkeit ist besonders unter der Jugend verbreitet. Die Säuglingssterblichkeit beträgt 58 von 1000, die durchschnittliche Lebenserwartung 60 Jahre. Die Alphabetenrate bei den Männern liegt bei 54, die der Frauen bei 41.4 Prozent. Für die Awami Liga und ihre Koalitionspartner, die seit Januar 2009 regieren, gibt es somit in allen Bereichen enorm viel zu tun. 35 Jahre nach dem Tod des »Vaters der Nation« warten die Menschen noch immer, daß dessen Visionen von einem prosperierenden »goldenen« Bangladesch Wirklichkeit werden.

* Aus: junge Welt, 14. August 2010


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