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Tag der Schande

Ein Jahr nach der Rana-Plaza-Katastrophe: Betroffene warten weiter auf angemessene Hilfszahlungen. Internationaler Druck auf Textilkonzerne ungebrochen

Von Thomas Berger *

Vor genau einem Jahr hatte Salma Akhter (27) Glück im Unglück: Mindestens 1127 Menschen kamen ums Leben, als am 24. April das achtstöckige Gebäude des Rana Plaza am Rande Dhakas zusammenstürzte und einen Großteil der Beschäftigten in den dort produzierenden fünf Textilfabriken unter seinen Trümmern begrub. 2500 weitere Personen wurden verletzt, Salma war eine davon. Den Jahrestag des bisher größten Industrieunglücks seiner Art erlebt die junge Frau indes nicht mehr. Am 26. Januar wartete die Tageszeitung Dhaka Tribune in einem Beitrag mit der Mitteilung auf, daß die seinerzeit Überlebende kurz zuvor Selbstmord begangen habe. Die starken Kopfschmerzen, die sie seit dem Unglück plagten, waren unerträglich geworden, Salma sah offenbar keinen Ausweg.

Rund um den Erdball wird heute an die Opfer erinnert. Es wird nicht nur getrauert. Im Vordergrund steht das Ringen um menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der globalen Textilindustrie, vor allem in Billiglohnländern wie Bangladesch. Die Augenzeugenberichte der Überlebenden sind eine fortgesetzte Anklage gegen die Verantwortlichen der Katastrophe. Reba Sikter ist gerade 18 Jahre alt. Die noch jünger wirkende Frau hatte sich im März erstmals in ihrem Leben auf große Reise begeben. Im Ausland berichtete sie von dem tragischen Ereignis, unter anderem sprach sie vor den Abgeordneten des US-Kongresses. Sie benannte die Probleme, die es bis heute gibt.

Am Morgen des Unglückstages sei nach einer Teilevakuierung am Vortag ein gefährlich aussehender Riß im Fabrikgebäude nicht zu übersehen gewesen, wurde Reba in der Huffington Post zitiert. Der Chef ihrer Firma habe sie und die anderen unter Androhung von Lohnkürzung und Jobverlust ins Innere getrieben. Auch sie hatte Glück und überlebte. Bisher erhielt sie umgerechnet 519 US-Dollar (375 Euro) an Entschädigungszahlungen.

So wie Reba sind weitere Überlebende besonders im westlichen Ausland unterwegs, um von den vielfach noch immer skandalträchtigen Zuständen zu berichten – dort, wo die Auftraggeber der Textilfirmen sitzen und auch die meisten Käufer zu Hause sind. Auf Einladung der Kampagne für saubere Kleidung (Clean Clothes Campaign, CCC), einer der größten Dachorganisationen, ist auch Shila Begum in den Niederlanden und Italien zu Gast. Vor Gewerkschaftern, Politikern und Vereinsvertretern erzählt sie, wie sie einen Tag unter den Trümmern lag und gerettet wurde. Eine finanzielle Entschädigung aber läßt weiter auf sich warten.

Mindestens 40 Millionen Dollar werden benötigt, um die aktuellen Bedürfnisse der Hinterbliebenen sowie der Familien der teilweise dauerhaft arbeitsunfähigen Überlebenden zu decken. Das fordert aktuell die globale Kampagne. Der Sonderfonds, von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) federführend verwaltet, ist gerade einmal zu gut einem Drittel gefüllt. 15 Millionen Dollar sind erst geflossen – und nur die Hälfte jener 27 ausländischen Konzerne, die mit den fünf Fabriken im Rana Plaza Liefervereinbarungen hatten, hat bislang gezahlt. Meist auch nicht sehr viel, den prägnantesten Betrag steuerte mit einer Million Dollar Primark bei. Der irische Textildiscounter spielt eine Art Vorreiterrolle. Neben der Beteiligung an diesem Gemeinschaftsfonds hat man sich dort auch zur Zahlung weiterer sechs Millionen Dollar an 580 direkt betroffene Beschäftigte der lokalen Partnerfirma entschlossen.

Auch Konzerne wie KiK, Mango, Walmart oder C&A haben sich inzwischen beteiligt. Doch andere verweigern sich ein Jahr danach noch immer. Angeführt wird dieses Lager von ebenfalls bekannten Namen wie Benetton oder Adler Modemärkte, wie unter anderem Philipp Jennings vom globalen Gewerkschaftsverband UNI anprangert. Gemeinsam mit der Schwesterorganisation IndustriALL und der CCC gehört UNI zu den entschlossenen Streitern für den Entschädigungsfonds und bessere Arbeitsbedingungen in der Branche.

Inzwischen gibt es ein Rahmenabkommen zu Gebäudesicherheit und Brandschutz, dem schon 160 internationale Modefirmen beigetreten sind. Jüngsten Informationen zufolge ist erst knapp ein Drittel der landesweit 1600 Fertigungsstätten unter die Lupe genommen worden. Der britische Independent zitierte Christy Hoffman, Vizegeneralsekretärin des globalen Gewerkschaftsbundes UNI, mit der Aussage, daß die 100 zuständigen Kontrolleure pro Woche gerade einmal 45 Fabrikinspektionen schaffen würden. Schon acht Fertigungsstätten seien wegen Lebensgefahr geschlossen worden. Überdies wurde vergangenen Dezember der Mindestlohn in Bangladeschs Textilbranche um 79 Prozent auf umgerechnet 68 Dollar pro Monat angehoben. Das ist noch immer nicht genug, um den meist weiblichen Mitarbeitern ein menschenwürdiges Leben zu sichern.

Den Fortschritten zum Trotz bleibt der 24. April 2013 ein Tag der Schande. Laut einer Studie der Hilfsorganisation ActionAid sind nach Befragung von fast 2300 Menschen 92 Prozent der Überlebenden des Unglücks »tief traumatisiert«. Mehr als die Hälfte der Betroffenen leidet unter Schlafstörungen und/oder Depressionen. Ohne angemessene finanzielle Unterstützung können die Überlebenden des Unglücks meist nicht einmal mehr ihre Kinder zur Schule schicken. Der Druck auf die Textilkonzerne dürfe deshalb nicht nachlassen, betonte denn auch DGB-Chef Michael Sommer dieser Tage in Dhaka. Der scheidende Chef des deutschen Gewerkschaftsdachverbandes ist zugleich Präsident der Internationalen Gewerkschaftsföderation (ITUC).

* Aus: junge Welt, Donnerstag 24. April 2014

Wer zahlt den Opfern wie viel?

Treuhandfonds noch nicht mal zur Hälfte gefüllt

Die internationalen Gewerkschaften IndustriAll und UNI haben einen Treuhandfonds eingerichtet. In diesen sollen die 29 Unternehmen, die in einer der Unglücksfabriken im »Rana-Plaza«-Gebäude fertigen ließen, zusammen 29 Millionen Euro einzahlen. Dann wird das Geld an die Familien der Opfer und die Überlebenden ausgezahlt. Bislang erhielten diese lediglich eine erste Tranche von jeweils 465 Euro, denn der Topf ist noch nicht mal halb voll.
  • Der britische Modekonzern Primark ist Vorreiter. 723 000 Euro zahlte er in den Fonds, 1,34 Millionen an alle »Rana-Plaza«-Arbeiter und weitere 6,5 Millionen an die Arbeiter, die für einen Primark-Zulieferer im zweiten Stock des Gebäudes arbeiteten.
  • Die Entwicklungshilfeorganisation Brac USA sammelte insgesamt 1,6 Millionen Euro ein, unter anderem von Gap, Walmart, The Children’s Place, Asda und VF Corporation. Manche dieser Firmen ließen gar nicht in Rana Plaza fertigen.
  • Der Textilhändler C&A aus Düsseldorf stellt 500 000 Euro bereit.
  • Der Textildiscounter KiK aus Westfalen zahlt 723 000 Euro. Die Hälfte geht in den Fonds, die andere Hälfte an lokale Hilfsorganisationen.
  • Bonmarché, Camaïeu, El Corte Inglés, Inditex (Zara), Loblaw, LPP S.A., Mango, Mascot, N Brown Group und Premier Clo-thing zahlen einen unbekannten Betrag.
  • Benetton, Matalan, Adler Modemärkte und Carrefour haben noch nichts eingezahlt.
(neues deutschland, 24.04.2014)

Aber die UNO sieht vor allem den Fortschritt:

Bangladesh: one year on, UN welcomes initial payments to survivors of factory collapse

23 April 2014 – One year after the global garment industry’s worst industrial accident, the fund chaired by the United Nations to compensate victims of Bangladesh’s Rana Plaza factory collapse has begun issuing its initial round of payments, as efforts to address the root causes of the disaster continue.

The Coordination Committee, chaired by the International Labour Organization (ILO), yesterday paid 50,000 BDT (Bangladeshi Taka) – about $645 – to each victim and the families of those who died in the 24 April tragedy, when the factory collapsed on the outskirts of Dhaka, the capital, killing more than 1,000 mostly female workers, and wounding thousands more.

“These initial payments are good news, now it needs to be ensured that all legitimate claims are honoured and that the injured victims or their surviving families receive full entitlements for their losses,” said Gilbert Houngbo, ILO Deputy Director-General for Field Operations and Partnerships, welcoming the payments that were announced at a ceremony in Dhaka.

“More donations to the Rana Plaza Trust Fund are needed to reach the $40 million target and ensure fair treatment for victims and their families, who are struggling to rebuild their lives,” Mr. Houngbo added.

According to a news release, this first round of payments, which also includes non-injured workers present at the factory at the time of the accident, is in line with the decision of the Coordination Committee to provide all victims a meaningful sum in advance of the 24 April anniversary of the factory collapse.

The Rana Plaza Arrangement and its Geneva-based Trust Fund were set up in September 2013 and are supported by voluntary contributions made by global brands and others. The Fund has so far received only about $15 million of the approximately $40 million total estimated amount calculated to compensate all the workers, according to the ILO.

“Our first priority is to get compensation to the victims,” Mr. Houngbo said in a video statement, adding that ILO is also set to work with the Government of Bangladesh and the wider international community to tackle “structural challenges” so incidents such as the Rana Plaza collapse never occur again, and to help Governments achieve the minimum institutional capacity to ensure safe working environments for garment workers.

He said the ILO was backing a systemic approach that ensures that any policy measures are implemented in ways that keep productive capacities competitive. Such an approach would protect and promote workers’ rights and improve living and working conditions.

While the issue was a priority matter for Bangladesh and other major garment-producing countries, Mr. Houngbo stressed that “everybody has to do their part” – from consumers, who might be asked to pay $1 or 1 euro more to ensure safe working conditions and improved livelihoods, to employers, workers’ unions and major corporations.

There would need to be a major effort to ensure that that extra dollar or euro “goes to the workers pockets and does not end up at the contractor or subcontractor level. These are the issues that we will be examining with the international community in months and years to come,” he said.

Mr. Houngbo, who is in Dhaka ahead of the anniversary, is due to meet with the Prime Minister of Bangladesh, Government ministers, employers’ and workers’ organizations, ambassadors and representatives of initiatives involved in improving working conditions in the country’s ready-made garment sector.

Tomorrow he is expected to address a high-level event – One Year after Rana Plaza: Progress and the Way Forward – organized by the Government of Bangladesh and the ILO.

UN News Centre, 23 April 2014; http://www.un.org




Bundesregierung drängt auf Freiwilligkeit

Entwicklungsminister Müller möchte Siegel zu Sozialstandards in der Textilindustrie schaffen

Von Kurt Stenger **


Ein Siegel soll Verbrauchern helfen, Textilien zu finden, die unter Einhaltung sozialer Mindeststandards produziert wurden.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) lädt Vertreter von Textilindustrie, Handel, Gewerkschaften und Arbeitsrechtsinitiativen zu einem Runden Tisch zu Sozialstandards in der Textilindustrie ein. Die Beratungen sollen am 30. April stattfinden, wie am Dienstag aus Regierungskreisen verlautete.

Der Minister strebt freiwillige Selbstverpflichtungen von Industrie und Handel auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen an. In diesem Zusammenhang ist auch ein neues Gütesiegel im Gespräch, das noch in diesem Jahr eingeführt werden soll. Den Verbrauchern, die sich seit dem »Rana-Plaza«-Unglück in Bangladesch stärker für die Zustände in den Textilfabriken interessieren, sollen damit Orientierungshilfen beim Einkauf gegeben werden. Sollten freiwillige Vereinbarungen nicht greifen, erwägt Müller auch, gesetzliche Regelungen auf den Weg zu bringen.

Nach Angaben aus der Unionsbundestagsfraktion soll das neue Siegel die Einhaltung von Mindeststandards bei Löhnen, Mitbestimmung und Umweltschutz, sichere Arbeitsbedingungen, Arbeitsschutz, Brandschutz, gesunde Lichtverhältnisse, Pausen- und Arbeitszeiten, sanitäre Anlagen sowie Unfallversicherung umfassen. Das Müller-Ministerium sei der »richtige Initiator«, denn die beiden staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen GIZ und DEG seien in den Produktionsländern aktiv und könnten solche Standards überwachen.

Nord-Süd-Initiativen sprachen von einem »guten Ansatz«. Allerdings sollte sich das Siegel nicht nur auf einzelne Produkte wie T-Shirts, Jeans oder Baumwolle beziehen, sondern auch das gesamte Unternehmen einschließlich seiner Einkaufspraxis in den Blick nehmen, fordert Sandra Dusch Silva von der Christlichen Initiative Romero. Zudem hätten die jüngsten Katastrophen in Bekleidungsfabriken gezeigt, dass freiwillige Selbstverpflichtungen »nicht wirksam sind«. Diese dienten den Unternehmen viel zu oft als »Feigenblatt«. »Ein staatliches Textilsiegel führt nur dann zu mehr Nachhaltigkeit in der Modebranche, wenn die Einhaltung von Menschen- und Arbeitsrechten gesetzlich verbindlich ist und dies auch zuverlässig kontrolliert wird«, so Dusch Silva.

Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte hält eine gesetzliche Regelung für möglich. Die Bundesregierung könne »national Regelungen erlassen, dass jeder, der in Deutschland mit Textilien handelt, bestimmte Arbeitsrechtsstandards oder andere Menschenrechte einhalten muss«, erklärte der stellvertretende Institutsdirektor Michael Windfuhr gegenüber der Agentur epd. Dies wäre mit dem Handelsrecht konform, wenn kein Hersteller und kein Land benachteiligt werde.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 24. April 2014


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