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"Menschenleben zählen nichts, Profit ist alles"

Delegation des Bundestages informierte sich über Textilindustrie und Gewerkschaften in Bangladesch. Ein Gespräch mit Niema Movassat *


Niema Movassat ist Mitglied des Deutschen Bundestages für Die Linke.


Sie waren mit dem Entwicklungsausschuß des Bundestags unterwegs, unter anderem in Bangladesch. Auf Facebook haben Sie erklärt, nachdem Sie Einblick in die dortige Textilindustrie gewonnen hätten, seien Sie gänzlich überzeugt, daß der Kapitalismus abgeschafft werden muß. Wie muß man das verstehen?

Unsere Delegation hat die Ruine der Textilfabrik Rana Plaza besucht. Am 24. April 2013 starben dort 1138 Menschen, als das mehrstöckige Gebäude einstürzte. Rund 2000 wurden verletzt, 140 sind vermißt. Die Fabrik hätte keiner Statikprüfung standgehalten, wahrscheinlich war auch Korruption im Spiel. Einige Tage vor dem Einsturz waren Risse in den Wänden zu sehen, aber den Arbeiterinnen und Arbeitern wurde gesagt: Geht arbeiten! Das sind brutale frühkapitalistische Methoden: Menschenleben zählen nichts, Profit alles.

Hat es Versuche der Wiedergutmachung gegeben?

Die Opfer und Hinterbiebenen bekommen 460 Euro Entschädigung; später vielleicht noch ein wenig mehr. 460 Euro für ein Menschenleben! Dafür müssen sie stundenlang vor der zuständigen Behörde campieren. Wir haben verzweifelte Menschen getroffen, die Bilder ihrer vermißten Angehörigen hochhielten. Und Opfer, die Beine und Arme verloren haben. Die Entschädigung ist ein Witz.

Wer zahlt diesen mickrigen Betrag aus?

Die Firmen haben einen Fonds aufgelegt, den die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) verwaltet – eine UN-Organisation mit Sitz in Genf. 40 Millionen Dollar sollten eingezahlt werden, bisher sind nur 15 Millionen zusammengekommen. Die Firmen lassen die Opfer weiter im Stich, darunter sind deutsche und europäische Unternehmen wie KiK, NKD, Adler Modemärkte, C&A, Mango und Benetton, die teilweise gar nichts oder zu wenig gezahlt haben – wie auch der US-Konzern Walmart.

Hat sich überhaupt etwas in der Textilbranche verändert?

Nach dem Einsturz der Fabrik war die Empörung groß; es hat Druck auf die Konzerne gegeben. Deshalb gibt es den »Accord for Bangladesh«, einen Zusammenschluß von etwa 160 Unternehmen aus Europa, der begonnen hat, den Arbeitsschutz der Textilfabriken zu überprüfen – nicht aber soziale Standards wie Löhne, Arbeitsbedingungen, Urlaub oder auch die Möglichkeit zur Gewerkschaftsgründung.

Wie sind die Gewerkschaften dort aufgestellt?

Es gibt Betriebsgewerkschaften. Sie sind dort eher zersplittert und treten nicht einheitlich auf; der Organisationsgrad liegt unter fünf Prozent. Um eine Betriebsgewerkschaft zu gründen, müssen 30 Prozent der Arbeiter unterschreiben. Das Arbeitsministe­rium entscheidet dann, ob es eine Gewerkschaft im jeweiligen Betrieb gestattet oder nicht. Die ILO fordert, daß ab zehn Prozent eine Gewerkschaft tätig werden kann.

Sie haben die Gewerkschaftsführerin Mushrefa Mishu getroffen. Wie beurteilt sie die Situation?

Seit Jahren setzt sie sich für die Rechte der Arbeiterinnen ein. Die Regierung sieht sie als Rädelsführerin der Arbeiterbewegung und versucht, sie zu kriminalisieren und kaltzustellen. Insgesamt mußte sie fünf Mal ins Gefängnis, das letzte Mal für fünf Monate. Sie hat sogar Morddrohungen erhalten. Sie wird sich aber nicht davon abhalten lassen, weiter zu kämpfen.

Was wollen Sie jetzt unternehmen, nachdem Sie dieses Elend gesehen haben?

Wir müssen Druck ausüben: Sowohl auf die Fabrikbesitzer in Bangladesch als auch auf die Regierung. Aber auch die westlichen Regierungen müssen dafür sorgen, daß Unternehmen, die unter solchen Bedingungen gefertigte Textilien billig einkaufen, dafür haftbar zu machen sind. Sinnvoll wäre auch, wenn deutsche Gewerkschaften mit denen in Bangladesch kooperieren würden, um sie zu stärken. Der Mindestlohn von 53 Euro ist weltweit der niedrigste im Textilsektor.

Wie war die Reaktion der Abgeordneten der anderen Parteien? Sind sie auch entschlossen, den Kapitalismus abschaffen zu wollen?

Nein, aber alle sehen, daß sich etwas ändern muß. Ich bin jedoch skeptisch, ob wir mit einem freiwilligen »Social Made-Siegel« weiterkommen, wie es Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) fordert. Wer soll dies in der gesamten Lieferkette kontrollieren? Wir brauchen statt dessen klare Gesetze hierzulande und die Möglichkeit, Unternehmen zu bestrafen, die Menschenrechte verletzten.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Freitag, 2. Mai 2014


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