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Trostlose Enklaven

Schwelender Territorialkonflikt zwischen Indien und Bangladesch

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Anfang August rückten 111 indische Enklaven auf dem Gebiet Bangladeschs und 51 bangladeschische Enklaven auf indischem Territorium durch den Besuch eines Parlamentsabgeordneten auf einer dieser »Inseln« wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Eine Lösung des Problems – Gebietsaustausch – schmort seit Dezember 2013 im indischen Oberhaus.

Nazmul Haque Pradhan war am 7. August der erste Parlamentarier beider Länder, der eine Enklave – ein vom Nachbarstaat umschlossenes Gebietsstück – besuchte. Er brauchte dafür ein Visum und fand das bedauerlich, weil er ja eigentlich von Bangladesch nach Bangladesch reiste. Noch bedauerlicher war freilich, was er in der Enklave Poaturkuthi zu sehen bekam. »Die Bewohner überleben irgendwie«, umschrieb er die trostlose Lage. Die in den Enklaven Lebenden sind praktisch staatenlos, niemand kümmert sich um sie, keine Seite fühlt sich verantwortlich. Es mangelt an Wasser und Nahrungsmitteln, an Straßen und Strom, an Schulen und Gesundheitseinrichtungen.

Die über 60000 in den insgesamt 162 Enklaven lebenden Menschen hängen von der Gnade der Grenztruppen ab, ob sie ihr Gebiet zum Einkaufen oder zu Verwandtenbesuchen verlassen dürfen oder nicht. Die Zustände sind miserabel und untragbar. Das wissen auch die Regierungen in Neu-Delhi und Dhaka. Ein Plan zur Beseitigung des Problems liegt auf dem Tisch. Im September 2011 hatten der damalige indische Premier Manmohan Singh und seine bangladeschische Amtskollegin Hasina Wajed eine bahnbrechende Vereinbarung über die Demarkation der Grenze und den Austausch der Enklaven unterzeichnet. Das Dokument basiert auf einem Abkommen aus dem Jahre 1974. Beide sind aber bislang nicht in Kraft getreten. Das Parlament in Dhaka unterzeichnete die Vereinbarung umgehend.

Ein entsprechendes Gesetz, das eine Verfassungsänderung erforderlich macht, ist hingegen seit Dezember 2013 im indischen Oberhaus steckengeblieben. Die Indische Volkspartei (BJP), zu dem Zeitpunkt noch in der Opposition, verweigerte ihre Zustimmung. Starker Gegenwind kam zudem aus den Bundesstaaten Westbengalen und Assam, die von dem Gebietsaustausch betroffen sein werden. Indien würden rund 4000 Hektar Land verloren gehen, zu dem es aber ohnehin keinerlei Zugang hat. Insofern ist es keine wirkliche Einbuße. Der Gewinn wäre eine ordentliche, sichere Grenze. Die Enklavenbewohner könnten sich entscheiden, zu bleiben oder in den Nachbarstaat umzusiedeln. Auf jeden Fall wären sie nicht mehr staatenlos und würden endlich von den Entwicklungsprojekten der einen oder anderen Seite erfaßt.

Inzwischen wurde auf der indischen Seite Kompromißbereitschaft signalisiert. Die BJP-Regierung in Neu-Delhi, seit Mai im Amt, zeigt sich im Prinzip bereit, die Vereinbarung zu sanktionieren. Das liegt auch ganz auf der Linie von Premier Narendra Modi, die Beziehungen zu allen süd­asiatischen Nachbarn deutlich zu verbessern. Auch die schärfste Opponentin eines Abkommens, die westbengalische Chefministerin Mamata Banerjee, deutete kürzlich an, ihren Widerstand aufzugeben.

Das einzigartige Enklaven-Problem, das in solcher Form nirgendwo auf der Welt existiert, soll vor Jahrhunderten lange vor der Kolonisierung des Subkontinents durch Großbritannien von zwei lokalen Maharadschas geschaffen worden sein. Sie hatten angeblich die Gebiete als Preise für ihr leidenschaftliches Schachspiel gewonnen oder verloren. Bereits 1713 kam es zwischen einem lokalen Fürsten und dem indischen Mogul-Reich zu einem Vertrag über einige Enklaven. Ein neues Abkommen wäre ein starker Impuls für ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zwischen Indien und Bangladesch.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 14. August 2014


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