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"Das belarussische Modell ist einfach und intuitiv"

Gespräch mit Wladimir Ulachowitsch über ein eigenwilliges Land am Rande Europas, den Sozialstaat und Regeln des politischen Aufruhrs

Balarus (Weißrussland) gilt im Westen als eine der letzten Diktaturen Europas. Die US-Regierung und die EU-Kommission behandeln das Land wie einen "Schurkenstaat", nachdem die Stimmauszählung bei den Wahlen am 19. März 2006 nicht so verlaufen ist, wie man sich das gewünscht hätte und nachdem auch anschließend wenig von einer "ukrainischen" Entwicklung zu spüren war. Das Interview mit einem Sozialwissenschaftler aus Minsk, das wir im Folgenden dokumentieren, zeigt eine etwas andere Sicht der belarussischen Dinge.
Wladimir Ulachowitsch ist Mitarbeiter am Zentrum für politische und soziologische Forschungen an der Staatlichen Universität von Belarus in Minsk.



Frage: Lassen die Proteste nach den Präsidentenwahlen im März Tendenzen einer gesellschaftlichen Destabilisierung in Belarus erkennen?

Wladimir Ulachowitsch: Jede politische Kampagne findet einen gewissen Widerhall in der Gesellschaft. Aber er war nicht besonders groß, er spielte sich mehr auf der Ebene von Küchengesprächen ab. Die Opposition hat aus ihrer Nachwahlkampagne einen gewissen Schwung mitgenommen, der jedoch zunehmend verloren geht.

F: In den westlichen Medien werden immer wieder Vergleiche zwischen der Ukraine und Belarus angestellt. Dabei wird festgehalten, daß es in Ihrem Land keine Oligarchen wie in der Ukraine gebe. Diese Oligarchen, schrieb zum Beispiel Michael Ludwig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hätten nicht nur die Wut der Massen auf sich gezogen und damit die Massenrebellion gegen das Kutschma-Regime möglich gemacht, sie hätten durch die Herstellung eines Vermögenspluralismus auch den demokratischen Umschwung befördert. Wie sehen Sie das?

Ich glaube nicht, daß die Nichtexistenz einer oligarchischen Oberschicht in Belarus die gesellschaftliche Debatte maßgeblich bestimmt. Die Akzeptanz, die das System in der Bevölkerung findet, ergibt sich in erster Linie aus seiner sozialen Orientierung. Diesbezüglich lassen sich die Verhältnisse hier in keiner Weise mit denen in der Ukraine oder Rußland vergleichen. Auch in der Ukraine war der antioligarchische Affekt nicht entscheidend für den Systemwechsel. Dieser ergab sich aus der Entwicklung neuer politischer Strömungen und der darauf folgenden Spaltung im Parlament. Ein maßgeblicher Grund für die politische Krise war auch die schlechte Reputation des damaligen ukrainischen Präsidenten. Für normale Menschen war es unbegreiflich, wie ein früherer Betriebsdirektor innerhalb eines Jahres zum Milliardär werden konnte.
Das und der Verlust aller sozialen Sicherheiten hat zu der Unzufriedenheit in breiten Gesellschaftsschichten geführt. Darin liegt der Unterschied zur Situa­tion in Belarus, wo sich die Bevölkerung sozial sicher fühlt und sich die Macht, vor allem der Präsident, wesentlich anständiger verhält als in der Ukraine. Dazu kommt, daß es in unserem Land keine historisch bedingte Spaltung in einen Ost- und einen Westteil gibt, wie das im Nachbarland der Fall ist. Deshalb gibt es für eine ukrainisches Szenario in Belarus keine objektiven Voraussetzungen.

F: Die Republik Belarus ist kein sozialistisches Land mehr und noch kein kapitalistisches. Wird hier versucht, auf dem Dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus voranzukommen?

Eine schwierige Frage. Ich würde sagen, unser Weg liegt irgendwo dazwischen. Wir sind mit dem Widerspruch zwischen der sozialen Absicherung der Bevölkerung und der Konkurrenz als der treibenden Kraft der Ökonomie konfrontiert. Die Proportion zwischen beiden abzuwägen, ist äußerst kompliziert. In Europa wird der sozialen Frage ein hoher Stellenwert eingeräumt. Vergleicht man die Dinge oberflächlich, dann ist Rußland näher bei Europa als Belarus. Betrachtet man das etwas genauer, dann liegt Rußland näher bei Amerika und Belarus näher bei Euro­pa. In Europa herrscht die Auffassung vor, daß der Staat die Verantwortung für die soziale Lage trägt. In den USA herrscht ein Vertragsverhältnis zwischen Staat und Business, wobei der Staat keine sozialen Aufgaben an sich zu ziehen hat. Unser Modell, das ich als ein auf intuitive Weise entwickeltes bezeichnen würde, ähnelt mehr dem europäischen. Belarus ist ein Sozialstaat mit marktwirtschaftlichen Elementen, wobei das Verhältnis zwischen beiden noch nicht geklärt ist.

F: Wenn in Europa gegenwärtig die soziale Frage gestellt wird, wird sie mit Sozialabbau beantwortet. Die soziale Markwirtschaft, auf die sich das belorussische Modell bezieht, wird immer asozialer und die europäische, einst sozialstaatlich orientierte Sozialdemokratie, immer neoliberaler. Könnte es nicht sein, daß auch in Ihrem Land die soziale Marktwirtschaft nur ein Durchgangsstadium zum entfesselten Kapitalismus ist?

Ich gebe Ihnen recht, daß die Sozialdemokratie in ihrem Wesen nicht mehr die gleiche ist wie früher. Doch läßt sich die belorussische Entwicklung in ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Dynamik nicht auf tradierte Begriffe wie sozialdemokratisch festlegen. Wir haben es hier auch mit dem Übergang von einem Großstaat, dem wir angehörten, zu einem Kleinstaat zu tun, was in erster Linie pragmatische Schritte erfordert und nicht die Verfolgung hochgesteckter Ideale. Die Aufgabe der staatlichen Verwaltung bestand nicht darin, irgendein sozialdemokratisches Modell zu verfolgen, sondern Stabilität herzustellen und dem Volk ein erträgliches Leben zu sichern.
Hinzu kommen Elemente der nationalen Tradition, die man als paternalistisch und in gewisser Hinsicht als provinziell bezeichnen könnte. Im Vordergrund des gesellschaftlichen Bewußtseins stehen Fragen des praktischen Lebens, wie die Familie, das Grundstück, das Wohlergehen der Kinder, der Grundsatz, daß alle arbeiten sollen und müssen. Ruhe und Stabilität sind keine von oben vorgegebenen Grundsätze, sondern Werte, die von der Bevölkerung sehr geschätzt werden.

F: Doch ist im Spannungsfeld zwischen Markt und sozialer Sphäre eine spannende Entwicklung zu erwarten. Welche Optionen eröffnen sich?

Das Wesensmerkmal der staatlichen Politik in Belarus ergibt sich daraus, daß sie mit den Verhaltensmustern der einfachen Menschen verbunden ist. Das macht die Grenze deutlich, die nicht überschritten werden darf. Wir haben es mit einem evolutionären Prozeß zu tun. Der private Sektor entwickelt sich, auch wenn sich das in Zahlen noch nicht ablesen läßt. Während in Rußland ein Großunternehmertum entstanden ist, entwickelt sich in Belarus auf breiter Grundlage das kleine Business. Das könnte eine Voraussetzung für ein eher ausgeglichenes Verhältnis zwischen Markt und sozialer Sphäre sein.

F: Hat Belarus ein Entwicklungsmodell gewählt, das bewußt den Neoliberalismus negiert?

Ich glaube, daß wir keinem Sonderweg folgen, sondern einer allgemeinen Tendenz, die sich in Europa zunehmend bemerkbar macht. Wenn man die jüngsten Ereignisse in Frankreich betrachtet, dann läßt sich feststellen, daß das Soziale die politische Bühne zurückerobert. Die liberale Ideologie gerät in die Defensive. Das trifft nicht auf die Amerikaner zu. Die wollen den Liberalismus ohnedies nur für sich selbst gelten lassen. Die Menschen in Deutschland oder Frankreich wollen auch nichts anderes als die Leute bei uns: Ein ruhiges, normales Leben, einen gesicherten Arbeitsplatz und Zukunftsperspektiven für ihre Kinder. Das sind in der Tat universelle Werte, die es auch gestatten, die nationale Identität zu bewahren.

F: Doch diese Werte können sich im Westen immer weniger behaupten. Der soziale Diskurs ist in der Defensive. Je unsozialer die Verhältnisse werden, desto aufdringlicher werden die sogenannten westlichen Werte – Freiheit, Demokratie und Menschenrechte – propagiert. Das ist auch die Ideologie, von der die bunten Revolutionen bewegt werden.

Trotzdem behaupte ich, daß die Sicherung der Sozialsphäre die Hauptaufgabe des Staates bleibt. Andernfalls verlöre der Staat seinen Sinn. Seit Jahrzehnten erleben wir in Europa ein Auf und Ab der sozialdemokratischen Bewegung. Wenn sich heute die sozialdemokratische Idee zurückgedrängt sieht, heißt das nicht, daß sie verschwunden ist.

F: Ich meine, daß sich in der neoliberalen Ära auch die Rolle des kapitalistischen Staates und auch der Sozialdemokratie grundlegend gewandelt hat. Doch zurück zur belorussischen Situation. Läßt das System Lukaschenko historische Vergleiche zu? Läßt es sich als bonarpartistisch im Sinne einer sich auf die Unterschichten stützenden autoritären Macht bezeichnen?

Vergleiche kann man immer ziehen. Tatsächlich handelt es sich um ein paternalistisches System. Dieses ergab sich aus dem Druck der Ereignisse nach dem Ende der Sowjetunion, was uns vor die Situation stellte, die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse einer raschen Klärung zuzuführen, um Zusammenbruchs­tendenzen aufzuhalten. Natürlich hätten wir das westliche parlamentarische System übernehmen können. Doch das wäre nicht sehr effektiv gewesen. Der Parlamentarismus ist nur dann ein gutes Modell, wenn es schon eine staatliche ökonomische Basis gibt. Wenn man aber von Null aus beginnen muß, erweisen sich parlamentarische Prozeduren als viel zu langwierig und kostspielig. Unser Bonapartismus, wenn Sie das so nennen wollen, ist also objektiv bedingt.

F: Stimmt es, daß Lukaschenko im wesentlichen das Gros der unteren Schichten hinter sich weiß, während sich die Opposition auf das Kleinbürgertum, die intellektuellen Zwischenschichten und die städtische Jugend stützt?

Das ist ein Gesetz des politischen Aufruhrs, daß vor allem Intellektuelle und Jugendliche eine aktive Rolle übernehmen. Es ist eine alte soziologische Erkenntnis, daß die Jugend eher zu radikalen politischen Durchbrüchen bereit ist und anderen Werten anhängt als die ältere Generation. Das ist ein normaler Generationskonflikt. Es ist nun mal eher ein jugendliches Bedürfnis, gemeinsam zu handeln, zu kämpfen und sich auch mit der Polizei herumzuschlagen. Trotzdem glaube ich, daß die am stärksten arbeits- und entwicklungsfähigsten Schichten unserer Gesellschaft für Stabilität und soziale Ausgeglichenheit eintritt.

F: Gleichzeitig ist in den ehemaligen sozialistischen Ländern eine Umkehr der Werte zu beobachten. Der Veränderungswille entzieht sich dem sozialen Diskurs. Asozialer Individualismus, auch wenn er sich in kollektiver Form äußert, gilt als fortschrittlich, das Festhalten an sozialen Werten als konservativ. In diesem Sinn hat sich auch der Reformbegriff gewandelt.

Putin hat in seiner jüngsten Rede vor dem Parlament festgehalten, daß sich die Hoffnungen von Millionen Menschen in die Perestroika, die ein besseres Leben verhieß, nicht erfüllt haben.
Reformen erweisen sich oft als das Gegenteil dessen, was sie versprechen. Unlängst hat jemand die Belorussen als die europäischen Chinesen bezeichnet, weil sie in sehr vorsichtigen Reformschritten nach vorne gehen. Wir haben uns gegen die Schocktherapie und für graduelle Reformen entschieden. In Belarus gibt es keine Beschäftigten, die wie in Rußland seit Monaten keine Löhne mehr erhalten haben. Hier wurden riesige Betriebe nicht einfach zugemacht. Was hat die Zerstörung von Produktionsanlagen oder der Frevel, der eigenen Mutter die Rente vorzuenthalten, mit progressiven Werten zu tun?
Zum belorussischen Modell: Es ist einfach und intuitiv. Es folgt keinem starr festgelegten Plan, sondern es ist ein vorsichtiges Abtasten, um neues Terrain zu gewinnen.

F: In Gesprächen sind mir zwei unterschiedliche Erklärungsmuster für das belorussische Projekt aufgefallen: Die einen sehen darin eine spezifische Form des Übergangs zur westlichen Marktwirtschaft und Demokratie, die anderen betonen den autonomen Charakter des Modells als einer Form der nationalen Selbstbestimmung. Wie sehen Sie das?

Ich tendiere zu letzterem. Es hat sich etwas eigenes entwickelt. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, daß Belarus zu einem europäischen Kernland wird. Denn das würde uns zwingen, den sozialen und politischen Bruch, der durch Europa geht, zu akzeptieren. Wir haben einen sehr starken Partner an unserer Seite. Gleichzeitig müssen wir gegenüber Europa offen sein. Genau darin liegt unsere Spezifik. Ich bin nicht der Meinung, daß Belarus unbedingt Mitglied der EU werden muß. Belarus hat seine eigenen Probleme, vor allem Probleme seiner wirtschaftlichen Modernisierung, die es nur selbstbestimmt lösen kann. Unser Land muß seinen eigenen Zugang zum gesamteuropäischen Markt finden, und unsere Menschen müssen natürlich auch das Recht haben, frei nach Europa zu reisen. Wenn wir diese beiden Probleme lösen können, dann brauchen wir auch nicht Mitglied der EU zu werden. Würde Belarus dem ukrainischen Weg nach Westen folgen, müßte es sich gegenüber dem Verbündeten im Osten abgrenzen. Der Weg, den wir gewählt haben, folgt dem natürlichen Ablauf der Dinge.

Das Gespräch führte Werner Pirker

* Aus: junge Welt, 27. Mai 2006


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