Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eine "Schweiz des Ostens"? Rätselhaftes Belarus:

Sieg des Sozialismus in einem Land oder letztes Reich des Bösen in Europa?

Von Frank Preiß

Teil 1: Lukaschenkos Kurs gegen den Neoliberalismus*

Als Präsident muß ich bisweilen unpopuläre Entscheidungen treffen, und ich weiß, daß man mich dafür nicht verehren wird. Aber meine Aufgabe ist es, alle dazu zu bewegen, das Land zu lieben, in dem wir gemeinsam leben und die Macht zu respektieren, die zu keiner Zeit die Nöte des Volkes vergaß ... Die Verteidigung der Menschen ist meine Hauptaufgabe. Dafür hat mich das Volk gewählt.«

Nein, diese Worte stammen nicht von George W. Bush, obwohl das Pathos und der Appell an nationale Empfindungen durchaus amerikanisch klingen.

Der dies äußerte, ist für die einen der »letzte Diktator Europas«, für andere jedoch ein charismatischer Ausnahmepolitiker, der seinem Volk Wohlstand, Frieden und Prosperität sichert. Die Rede ist von Alexander Grigorewitsch Lukaschenko, seit dem 10. Juni 1994 Staatsoberhaupt von Belarus. Obwohl dessen Hauptstadt Minsk nur 1100 Kilometer östlich von Berlin liegt, wissen die meisten hierzulande kaum etwas über das kleine Land (seine Größe beträgt 207000 Quadratkilometer, zum Vergleich: die BRD hat eine Fläche von 357000 Quadratkilometer), in dem nur etwa zehn Millionen Menschen leben.

Als die Sowjetunion 1991 kollabierte, griffen in Belarus, wie in anderen Sowjetrepubliken auch, einheimische Eliten – vorrangig gewendete ehemalige KP- und Wirtschaftsfunktionäre – nach der Macht. Dabei diente allerorts der Nationalismus als Katalysator der Sezessionsbewegungen, die von außen kräftig unterstützt wurden. In Weißrußland, wie das Land in der Übersetzung heißt, war dieser jedoch nicht so stark wie in den baltischen Nachbarstaaten und in der Ukraine.

Das erklärt sich auch daraus, daß das Land nie eine wirkliche Eigenstaatlichkeit besaß, auch nicht, wie neuerdings von belorussischen Rechtsnationalisten hartnäckig behauptet, von 1918 bis 1920, als die antibolschewistische »Belorussische Volksrepublik« bestand. Der späteren Sowjetrepublik im Verband der UdSSR, sogar mit eigenem UNO-Sitz, wurde die große Linie aus der Moskauer Zentrale vorgegeben.

Belarus war Jahrhunderte hindurch Zankapfel, Spielball und Schlachtfeld europäischer Machtpolitik. Vor allem Russen, Polen und Litauer rangen um die Herrschaft. Polen versuchte noch Anfang der 1920er Jahre, Belarus unter seine Gewalt zu bringen.

Antifaschistisches Erbe

Die Erinnerung an den gemeinsamen Kampf aller Völker der Sowjetunion gegen die Vernichtung der jüdischen, slawischen und anderen »Untermenschen« durch die Hitlerfaschisten und deren Handlanger in den Jahren 1941–1945 ist eines der wichtigsten und wirksamsten Mittel gegen das tödliche Gift des Völkerhasses, das Rußland und seine Nachbarn bedroht. Bis heute haben die Belorussen nicht vergessen, daß Millionen ihrer Landsleute im Zweiten Weltkrieg von den faschistischen Eroberern ermordet oder zur Sklavenarbeit gezwungen wurden, daß jeder vierte Einwohner den Krieg nicht überlebte, daß 85 Prozent der Betriebe zerstört waren, daß 80 Prozent des Viehbestandes vernichtet wurden, daß drei Millionen Menchen ihr Obdach verloren. Nur ein relativ geringer Teil der Bevölkerung war während der drei Jahre brutalster Okkupation zur Kollaboration bereit, während sich beispielsweise in den baltischen Staaten nicht wenige Helfer zum Blutdienst für Hitlerdeutschland meldeten. Daß die Regierungen dieser Staaten sich immer noch nicht eindeutig von deren Mordorgien distanzieren und diese fadenscheinig und hintergründig mit dem Kampf gegen die kommunistische Diktatur begründen, empfinden die meisten Belorussen als Beleidigung. Und es macht sie auch gegenüber einer EU, die dies hinnimmt, mißtrauisch. (Daß die noch lebenden Juden- und Slawenmörder in Riga, Vilnius oder Tallinn sogar von Regierungspolitikern hofiert werden, während man ihre ehemaligen Gegner diskriminiert, treibt freilich auch manchem in den baltischen Staaten die Zornes- und Schamesröte ins Gesicht.)

Eine Hauptsäule der Sowjetunion

Sowohl wirtschaftlich und politisch als auch militärisch galt die kleine Belorussische Sowjetrepublik als eine Hauptsäule der Sowjetunion. Hier waren wichtige Industriebetriebe – auch solche der Rüstungsindustrie – beheimatet.

Nach der Unabhängigkeiterklärung 1991 erging es den Belorussen wie allen anderen ehemaligen Sowjetbürgern. An die Macht wurden Vertreter eines rigiden neoliberalen Kurses gespült, die ihre eigenen Gruppenambitionen nur dürftig hinter hohlen Phrasen von Freiheit und Demokratie verbargen und das Land zur Plünderung freigaben. Der diplomierte Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Lukaschenko saß damals noch als einfacher Abgeordneter im Parlament und griff die Regierung ob ihres unsozialen und autoritären Kurses vehement an, was ihm die Sympathie vieler Landsleute einbrachte.

Daß der Westen damals die zu Plünderern gewandelten Altkader unterstützte, hat der teils bewundernd, teils verächtlich »Batja« (Väterchen) titulierte Lukaschenko nie vergessen. Entsprechend wird er nicht müde, immer wieder den Artikel eins der Verfassung zu zitieren, nach dem Belarus ein »einheitlicher, demokratischer und sozialer Rechtsstaat« ist. Der rasante wirtschaftliche und soziale Absturz Anfang der 1990er Jahre hat sich seinen Landsleuten tief in das Gedächtnis eingebrannt. In der UdSSR gehörte das Land zu den reichen Gebieten und hing nicht am Subventionstropf der Moskauer Zentrale, wie z.B. die baltischen Nachbarn.

Daß Belarus heute in der Region wieder als vergleichsweise wohlhabend gilt, dafür machen die meisten Bewohner die Politik Lukaschenkos verantwortlich. Auch in Rußland schaut mancher neidvoll nach Westen. Für die Protagonisten einer »lichten kapitalistischen Zukunft«, und das sind keineswegs nur die Neoliberalen aus der Union der Rechten Kräfte (SPS), sondern auch Teile der Wirtschafts- und Politeliten Rußlands, ist Belarus unter Lukaschenko dagegen im vollen Wortsinn ein »rotes Tuch«.

Wie sollen sie es den Bewohnern Moskaus, Sankt Petersburgs oder Omsks auch erklären, daß das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) des rohstoffarmen Belarus’, auch ohne kühne Privatisierung, seit 1996 stetig wächst und 2003 um sieben Prozent und 2004 gar um elf Prozent zugenommen hat? Dabei sind die Realeinkommen der Gesamtbevölkerung ebenfalls seit 1996 stetig gestiegen und wuchsen 2003 um fünf Prozent und 2004 um 13,7 Prozent. Daß die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen von drei Prozent im Jahre 2002 auf 1,9 Prozent im vergangenen Jahr gesunken ist, scheint nicht nur den Russen wie ein Bericht aus einer anderen Welt. Trotzdem haben die Belorussen das Lebensniveau von 1990 immer noch nicht erreicht. Die Regierung drängt nunmehr vor allem auf dringend notwendige Verbesserungen im Gesundheitswesen und bei der Bildung. So werden auch Lehrer und Ärzte weit besser bezahlt als beispielsweise in Rußland oder gar in der Ukraine. Die Zahl der praktizierenden Ärzte erhöhte sich seit 1992 von 42700 auf 45000 im Jahr 2003. Auch bei Lehrern, Erziehern und dem mittleren medizinischen Personal gab es keinen »Personalabbau«.

Selbst der Schwachpunkt Landwirtschaft zeigt seit dem Jahr 2000 Zuwachsraten. 2004 erzeugte man 714 kg Getreide pro Kopf der Bevölkerung, während es vor 14 Jahren 690 kg waren. Gering ist nach wie vor die Fleischproduktion, die 2004 mit 65 kg pro Kopf bei weitem noch nicht den Stand von 1990 (116 kg) erreicht hat. Trotzdem ist der Aufwärtstrend nicht zu übersehen.

Daher fragte bereits vor einigen Jahren ein russischer Journalist ungläubig, ob Belarus gar zur »Schweiz Osteuropas« werde. Aber gerade im Erfolg scheint das Hauptproblem von »Batja« zu liegen. Lukaschenkos Mannschaft macht keinen Hehl daraus, daß sie in den neoliberalen Ratschlägen und Rezepten des Westens lediglich ein Mittel sieht, das Land unter ihre Herrschaft zu bekommen. Brüssel und Washington werden hingegen nicht müde, den belorussischen Sonderweg aus Sicht der »markwirtschaftlichen Demokratien« zu geißeln. Allerdings gibt es in Rußland immer wieder Stimmen, die in Belarus durchaus positive Ansätze und Nachahmenswertes erblicken.

Kontrollierte Investitionen

Auch im Westen wird Lukaschenkos »Reich des Bösen« offensichtlich nur von der offiziellen Politik eindeutig negativ bewertet und medial gegeißelt. Dabei ist das Land offensichtlich sogar ein Magnet für das Kapital, das angeblich so »scheue Reh«: Die Zahl der Länder, aus denen Geld nach Belarus floß, hat sich von 34 im Jahr 2002 auf 67 im Jahr 2003 erhöht. Dabei rangierte 2002 Großbritannien noch vor den USA, Rußland und Deutschland. Allerdings strömt dieses nicht nur in die 3400 Unternehmen mit ausländischer Beteiligung, die etwa neun Prozent des BIP Belarus’ erzeugen und in denen 2,4 Prozent der Beschäftigten tätig sind. Die internationalen Kapitalanleger scheuen auch Investitionen in die von der reinen Marktwirtschaftslehre so geschmähte Staatswirtschaft nicht, für die der Staat schließlich bürgt. Auch die Exporte und Importe wachsen schnell und haben sich seit 1995 verdreifacht. Deutschland und Großbritannien sind nach Rußland die größten Handelspartner. Die Regierung der Belarus bedingt sich allerdings aus, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu bestimmen und deren Einhaltung zu kontrollieren; ausländische Großkonzerne und Banken können also bei Lukaschenko nicht nach Gusto schalten und walten.

Auch kleine und mittlere Unternehmen drängen längst nach Belarus, denn in Minsk bekennt man sich zur Privatwirtschaft, und die regierungsoffizielle »Konzeption des Umgangs mit dem Staatseigentum in der Republik Belarus 2001–2006« sieht die Privatisierung von mindestens 75 Prozent der Staatsbetriebe mit bis zu 200 Beschäftigten vor. Bei den Großbetrieben, den Banken und den strategischen Schlüsselbereichen, wie z. B. der Rüstungsindustrie, will der Staat aber weiterhin die zentralen Entscheidungen treffen.

In diesem Jahr sollen Investitionen in Höhe von 6,2 Milliarden US-Dollar, 15 Prozent mehr als im Vorjahr, fließen, kontrolliert vom Staat und im nationalen Interesse. Und hier liegen augenscheinlich die Schwierigkeiten, die der Westen und auch die Russische Föderation (RF) mit Belarus haben. Freilich spricht das keiner so offen aus, und daher werden schnell »Menschenrechte«, »Demokratiedefizite« oder »Wirtschafthindernisse« ins Spiel gebracht.

Druck aus dem Westen

Lange wiegte man sich in Washington und Brüssel wohl in der Hoffnung, die Zeit Lukaschenkos werde spätestens mit dem Ablauf seiner zweiten Amtsperiode im Jahr 2006 auf gesetzmäßige Weise enden, da die Verfassung keine weitere Amtszeit erlaubte. Man hoffte, daß ein dem Westen genehmerer Kandidat, etwa aus dem Umfeld des ersten Präsidenten Stanislaw Schuschkewitsch, an die Macht gelangen würde. Sowohl die innere Konsolidierung als auch die für die Belorussen sichtbaren bisherigen sozialen Auswirkungen der Reformen in ihren EU- und NATO-Nachbarländern bewirkten aber das Gegenteil.

Im Oktober 2004 stimmten 77,3 Prozent der Belorussen einer Verfassungsänderung zu und gaben ihrem Präsidenten damit die Chance einer erneuten Amtszeit.

Zu diesem Zeitpunkt verließ man sich im Westen aber schon lange nicht mehr auf eine »Zeitlösung«. Nachdem man Lukaschenko schon zuvor zur Unperson erklärt und unter anderem mit Einreiseverboten in die EU und die USA belegt hatte, brachte man den Vorwurf massiver Wahlfälschung ins Spiel. Auch wenn kein Geringerer als der Leiter der russischen Wahlbeobachtermission, Innenminister Wladimir Ruschailo, am 18.10.2004 in der Iswestija erklärte: »Die Wahl in Belarus war frei, ehrlich, legitim und transparent. Ich hatte den Eindruck, die rege Teilnahme der Belorussen war auch eine Reaktion auf den Druck von außen.«

Minsk hatte den OSZE-Wahlbeobachtern das Einreisevisum verweigert und dies mit deren frühzeitigen tendenziösen Äußerungen begründet, die nur ein dem Westen genehmes Ergebnis zuließen. Viele Beobachter vor Ort glaubten, daß die Mission gar froh darüber gewesen sei und genau diese Reaktion Belarus’ erreicht werden sollte. So blieb, auch ohne triftige Beweise, zumindest der Verdacht der Fälschung an Minsk hängen. Vor dem Referendum hatten unabhängige Meinungsumfragen jedoch längst ergeben, daß sich der Präsident seines Sieges gewiß sein konnte.

Alexander Lukaschenko bleibt seinen Widersachern meist nichts schuldig und schießt, zumindest verbal, gelegentlich gerne zurück. Gegenüber Reuters äußerte er am 4. November 2004, auf die Wahlen in den USA anspielend: »Stellen Sie sich einmal vor, wir würden unsere Wahlen so abhalten, wie die Präsidentenwahlen in den USA. Man hätte uns schon lange niedergemacht.« Schon vor dem Referendum am 18. Oktober 2004 in Belarus äußerte er Unverständnis, daß die »Ausladung« der OSZE-Beobachter so viel Staub aufgewirbelt hat, wohingegen die Tatsache, daß die USA den Einsatz von belorussischen Wahlbeobachtern zu den US-Präsidentenwahlen ablehnten, keinen der »Demokraten« im Westen sonderlich aufgeregt habe.

Am 10.11. vergangenen Jahres folgte dann schließlich der belorussische Resolutionsentwurf an die UN-Vollversammlung zur Verurteilung der USA wegen Verletzung der Menschenrechte. In dem Papier heißt es: »Die amerikanische Regierung übt eine strikte Kontrolle über die Massenmedien aus, hält illegal und geheim Gefangene fest und hindert diese, ihre verbrieften Rechte wahrzunehmen«. Darüber hinaus wird festgestellt, daß »das Wahlsystem der USA die Prinzipen der internationalen Konvention über bürgerliche und politische Rechte verletzt.« Die Reaktion der USA ließ nicht lange auf sich warten. Im Dezember 2004 unterschrieb George W. Bush den »Akt über die Demokratie in Belarus«. Nunmehr ist es für alle Amerikaner Gesetz, die Ordnung in Belorußland im Sinne der USA-Regierung zu ändern. Mißlich für die Amerikaner ist nur, daß die rechte Opposition des Landes ziemlich schwach ist und einfach kein Thema findet, daß ihr genügend Zulauf bringt. Die allgemeinen Begriffe Freiheit und Demokratie haben nach 15 Jahren kapitalistischen Experimentierens in Osteuropa viel von ihrem einstigen Glanz und ihrer Anziehungskraft verloren und werden nicht selten nüchtern als trojanisches Pferd für ganz andere Absichten betrachtet. Wer ökonomisch nicht so schlecht gestellt ist wie die Georgier, Ukrainer oder Kirgisen, der wägt vor einer »Revolution« offenbar genauer ab.

Putschfeindliches Klima

Andererseits macht die Belorussen auch die Tatsache mißtrauisch, daß die rechtsgerichtete Opposition Polen als Speerspitze im Kampf um den Regimewechsel in Belarus nutzt. Den von dort geschürten antirussischen Ressentiments haben sich die Bürger zwischen Dnepr und Neman bislang jedoch mehrheitlich verweigert.

Die immer wiederkehrenden Zusammenstöße zwischen Polizei und Teilnehmern ungenehmigter Demonstrationen spielen auf Grund ihrer geringen Resonanz im Land bisher kaum ein Rolle und dienen nur im Ausland als Beweise für den diktatorischen Charakter der Regierung Lukaschenko. Minsk betont regelmäßig, daß sein Vorgehen geltendem Recht entspreche und die angewandten Mittel und Methoden denen der Polizeigewalt in westlichen Demokratien glichen. Bisweilen zeigt die Staatsmacht in Belarus durchaus Phantasie bei der Bekämpfung ihrer Gegner. So etwa bei einem der letzten großen Attacken des Präsidenten auf den »demokratischen Widerstand«: Im Dezember 2004 wurde bekannt, daß die Finanzinstitute alle größeren Geldüberweisungen aus dem Ausland bei der »Abteilung für humanitäre Tätigkeit beim Präsidenten der Republik« melden müssen. Der Entrüstungsschrei der »westorientierten« Opposition wurde von der Regierung mit dem lakonischen Hinweis auf gleichartige Maßnahmen in den USA und Westeuropa im Kampf gegen den internationalen Terrorismus pariert. Viele sprachen aber offener vom Versuch des finanziellen Austrocknens der rechten Opposition als Lehre aus der »orangenen Revolution« in Kiew. Leonid Erin, der Geheimdienstchef Belarus’, glaubt jedoch nicht an Vergleichbares in Minsk. Gegenüber der Agentur Nowosti sagte er im Oktober 2004: »Ich habe gute Beziehungen zu denen, die die Revolution in Tbilissi gemacht haben. Ich kenne auch jene gut, die die Revolution in Jugoslawien machten. Bei uns kann so etwas aber nicht geschehen. Die Temperatur unserer Gesellschaft beträgt genau 36,6 Grad.«

Staatliche Vereinigung?

Wenn man sich mit Belarus beschäftigt, kommt man nicht umhin, den großen östlichen Nachbarn ins Kalkül zu ziehen. Erst mit dem vorläufigen Stopp des Zerfalls Rußlands um die Jahrtausendwende und dem Versuch Wladimir Putins, eigene Interessen im postsowjetischen Raum zur Geltung zu bringen, geriet Minsk ernsthaft ins Visier der USA, der EU und der NATO, bekam oberste Priorität und wirkliches Gewicht. Lukaschenkos »sozialistische, gelenkte Marktwirtschaft« war bis dahin nicht gescheitert, im Gegenteil: im Westen sieht man inzwischen die Gefahr, daß das Land auch in Rußland als Vorbild betrachtet werden könnte. Bestärkt wird diese Befürchtung durch die Bemühungen Belarus’, die wirtschaftlichen, politischen und vor allem auch militärischen Verbindungen der postsowjetischen Staaten enger zu knüpfen. So kam gar die baldige staatliche Vereinigung ins Gespräch, und 2005 sollte auch der Russische Rubel zur Einheitswährung werden.

Das ließ die Alarmglocken im Pentagon, im NATO-Hauptquartier, aber auch bei den Neoliberalen und den Oligarchen in Rußland schrillen. Inzwischen ist von einer schnellen, vollständigen Vereinigung längst nicht mehr die Rede, und im politischen Alltag zeigen sich Widerstände, mit denen keiner gerechnet hatte. So sind die Belorussen mehrheitlich durchaus für eine Integration, befürchten allerdings auf das Lebensniveau ihrer ärmeren russischen Brüder und Schwestern herabzusinken und gar die höhere Kriminalität und Korruption des Nachbarlandes zu importieren.

Aber auch Rußland hat Schwierigkeiten mit einer Vereinigung. In Putins Umgebung scheint es einflußreiche Kräfte zu geben, die den Integrationsprozeß torpedieren. Die bisher schwerste Krise zwischen Rußland und Belarus, die sich 2004 an den Übernahmeplänen der belorussischen Energiefirma Belgastrans durch die russische Gasprom entzündete und schnell zum Generalangriff gegen die Union Republik Belarus – Russische Föderation ausweitete, war beileibe kein Zufall. Beim Treffen Putin-Lukaschenko im Juni 2004 in Sotschi wurde wohl nur deshalb das Tischtuch zwischen beiden nicht weiter zerschnitten, weil jene Politiker und Militärs die Oberhand behielten, die auf Integration setzen. Auch einflußreiche Wirtschaftskreise beider Länder, vor allem aus dem Maschinen- und Fahrzeugbau und der Rüstungsindustrie, liefen Sturm gegen den Angriff auf ihre (über)lebenswichtigen Partner. Aber noch etwas anderes dürfte Putin dazu bewegt haben, den Zwist mit Minsk nicht ausufern zu lassen und Zugeständnisse zu machen. Lukaschenko signalisiert dem Westen von Zeit zu Zeit, daß er durchaus eine Verbesserung der Beziehungen wünscht. Sollte Washington eines Tages zu dem Schluß kommen, daß es opportun sei, dem reuigen Sünder in Minsk zu vergeben und ihn in die westliche »Wertegemeinschaft« aufzunehmen, dann hätte Rußland nicht nur einen der letzten treuen Partner verloren, sondern seine Position als bedeutende Regionalmacht wäre endgültig in Frage gestellt.

Teil 2: Die belorussische Armeereform

Es gehört zum Job eines Verteidigungsministers, sein Ressort und die Truppen, die er führt, in der Öffentlichkeit zu preisen. Generaloberst Leonid Malzew aus Belarus macht da keine Ausnahme. Trotzdem dürfte das Interview, das er am 1. März diesen Jahres der zentralen russischen Armeezeitung Krasnaja Swesda gab, nicht nur seinem Moskauer Amtskollegen Sergej Iwanow verdeutlicht haben, daß der Nachbar offensichtlich das einzige postsowjetische Land ist, in dem eine Militärreform nicht nur auf dem Papier vorgesehen ist.

Für Eingeweihte ist es schon lange kein Geheimnis mehr, daß der bislang treueste Verbündete der Russischen Föderation und das aktive Mitglied des »Vertrages über die kollektive Sicherheit« [1] von der Öffentlichkeit fast unbemerkt vollbringt, wovon in Rußland meist nur geredet wird: Die Schaffung von Streitkräften, die den politischen, wirtschaftlichen und ökonomischen Anforderungen des 21. Jahrhunderts – jedenfalls nach Minsker Verständnis – gewachsen sein sollen. Bemerkenswerterweise übernahmen die Belorussen vom sowjetischen Erbe nur, was in ihre Konzeption paßte und ahmten auch die westlichen Streitkräfte nicht nach. Die chaotische und bislang weitgehend erfolglose Militärreform in Rußland (von den anderen postsowjetischen Staaten ganz zu schweigen) mag den Akteuren in Minsk immer als warnendes Beispiel vor Augen gestanden haben.

Gewaltiges Waffenarsenal

Als der Oberste Sowjet der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik am 25. August 1991, nach dem »Augustputsch« in Moskau, die staatliche Souveränität beschloß und das Land sich ab dem 19. September 1991 Republik Belarus nannte, befand sich dort im belorussischen Militärbezirk eine der gewaltigsten Truppenkonzentrationen der Welt. Diese Einheiten bildeten einen Hauptteil der zweiten Staffel der strategischen Verteidigung. In Insiderkreisen sprach man auch vom »gepanzerten Militärbezirk«, und das war keineswegs eine Übertreibung. Zu ihm gehörten unter anderem die 5. Gardepanzerarmee, die 7. Panzerarmee, die 28. Armee, ein Großteil der 2. Luftabwehrarmee und die 28. Luftarmee. Am 17. Juli 1992 dienten in der am 20. März 1992 [2] gegründeten Armee von Belarus immer noch über 170 000 Soldaten und Zivilbeschäftigte. Man besaß ein unglaubliches Waffenarsenal: 3 457 Panzer, 3 824 Schützenpanzer, 1 562 Artilleriesysteme, 390 Kampfflugzeuge, 79 Kampfhubschrauber.

Anders als in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken verlief der Prozeß des Militärumbaus, der zunächst vor allem ein Abbau war, relativ geordnet, transparent und unspektakulär. Im November 1992 wurden mit dem »Gesetz über die Verteidigung« und dem »Gesetz über die Allgemeine Wehrpflicht« weitere wichtige rechtliche Grundlagen geschaffen.

Die Impulse zum Militärumbau gingen zu Beginn der 1990er Jahre jedoch weniger von der politischen und militärischen Führung des Landes aus – sie kamen vielmehr von außen, wie etwa aus dem »Vertrag über die konventionelle Bewaffnung in Europa«, der 1992 den Umfang der konventionellen Bewaffnung der Nachfolgestaaten der UdSSR reglementierte. Danach wurden Belarus als Obergrenze 1 800 Panzer, 2 600 gepanzerte Fahrzeuge, 1 615 Geschütze, 260 Kampfflugzeuge und 80 Kampfhubschrauber zugestanden. Diese Obergrenze wurde Anfang 1996 erreicht. Nach zwei großen Kampagnen der Auflösung von Truppenteilen und der Verschrottung von Militärtechnik zählten die dortigen Truppen 1997 schließlich noch 83 000 Mann. Die vormals auf dem Staatsgebiet vorhandenen Kernwaffen und deren Einsatzmittel überführte man bis 1996 vollständig nach Rußland; Belarus ist seither kernwaffenfrei. Erst nach 1995 traten immer stärker originelle Züge und Eigenheiten einer spezifisch belorussischen Militärreform zutage, zunächst vor allem in den Organisationsstrukturen.

Die Allgemeinen und Panzerarmeen wurden aufgelöst und in das 28. und 65. Armeekorps umgewandelt. 2001 bildeten diese schließlich den Kern der neu geschaffenen Westlichen und Nordwestlichen Operativen Kommandos. Seit Dezember 2001 besteht die Armee aus zwei Teilstreitkräften, den Landstreitkräften und den Truppen der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung. Gegenwärtig zählen diese 65 000 Angehörige (davon 15 000 Zivilangestellte), 1 778 Panzer, 2 513 Schützenpanzer, 1 515 Artilleriesysteme, 152 Kampfjets und 44 Kampfhubschrauber. Ein großer Teil der Technik und Bewaffnung ist allerdings nicht im Einsatz, sondern langfristig konserviert.

Auffällig sind die geringen belorussischen Militärausgaben von bisher nur etwa 1,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Rußland wendet dafür 3,06 Prozent auf. Von den postsowjetischen Staaten hat nur Turkmenistan mit 0,6 Prozent niedrigere Militärausgaben als Belarus (Stand 2005). Allerdings sollen die Mittel für die belorussischen Truppen künftig jährlich um etwa 0,1 Prozent des BIP steigen. Weil das belorussische BIP in den letzen fünf Jahren zwischen 3,4 (1999) und elf Prozent (2004) zulegte, wachsen die Militärausgaben jedoch stärker, als es zunächst erscheint. Allerdings liegt die Wirtschaftskraft von Belarus, nicht zuletzt infolge des rasanten Niederganges in den ersten Jahren nach 1991, noch unter dem europäischen Durchschnitt.

Auf den ersten Blick haben wir es also mit einer kleinen Armee zu tun, deren Kernausrüstung dem Stand von vor 30 Jahren entspricht. Was ist es also, das russische Militärs, die wohl besten ausländischen Kenner der Streitmacht von Belarus, immer wieder mit Hochachtung, ja Bewunderung von ihren westlichen Waffenbrüdern berichten läßt?

Die Ursache dafür liegt offensichtlich nicht (nur) in der materiellen Ausstattung und Struktur der belorussischen Armee. Es sind auch deren Akzeptanz bei der Bevölkerung, die soziale Lage der Militärangehörigen, das System der personellen Auffüllung und der Ausbildung, die Leistungen des »kleinen Bruders« bei den gemeinsamen Übungen, die viele russische Soldaten nachdenklich stimmen. Wenn es um die Militärpolitik geht, müssen sich russische Politiker daher zu Hause auch den Vergleich mit ihren belorussischen Amtskollegen gefallen lassen.

Auch denjenigen, die mit der hoch überlegenen Militärmacht der NATO immer weiter an Rußlands Grenzen heranrücken und dabei vorgeben, nichts Böses im Schilde zu führen, ist die Militärpolitik von Belarus und dessen Kooperation mit Rußland ein Dorn im Auge. Noch immer wird eine »Gefahr aus dem Osten« suggeriert, obwohl diese nicht einmal von Rußland ausgeht, vom militärischen Zwerg Belarus ganz zu schweigen. Warum also blicken manche Militärs und Politiker im Westen mit Argwohn und voller Unruhe auf Belorußland und dessen Armee?

Gesellschaftliche Akzeptanz

Zunächst fällt eine außergewöhnlich positive Einstellung der weißrussischen Bevölkerung zu ihren Streitkräften ins Auge. Das ist einerseits historisch bedingt: Für die meisten Belorussen ist der Sieg der Sowjetarmee gegen die faschistischen Okkupanten nach wie vor ein wertvolles und behütenswertes historisches Erbe.

Darüber hinaus hat die belorussische Führung seit über zehn Jahren, im Gegensatz zu Rußland, weitgehend verhindern können, daß die Armee in politische Fraktionskämpfe verwickelt oder an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wird. In Belarus wurden nicht nur Ärzte und Lehrer, sondern auch Soldaten und Offiziere – anders als beim östlichen Nachbarn – selbst in den 1990er Jahren regelmäßig und vergleichsweise gut bezahlt. Die Gehälter der weißrussischen Militärs lagen etwa 25 Prozent über denen ihrer russischen Kollegen. Der »Mann mit dem Gewehr« wurde in Belarus der Gesellschaft nicht als Bettler vorgeführt, die Armee nicht pauschal als Lumpen- und Diebesgesindel verunglimpft, wie es in vielen postsowjetischen Staaten häufig der Fall war und ist.

Nicht weniger bedeutsam ist, daß die Kompetenzen in Minsk klar abgegrenzt sind. Das Verteidigungsministerium hat die politischen Vorgaben von Präsident und Parlament umzusetzen, und der Generalstab ist diesem nachgeordnet, fungiert als operatives Führungsorgan und hat das Zusammenwirken mit anderen Staatsorganen zu koordinieren. Während sich in Rußland Verteidigungsministerium und Generalstab mitunter erbittert bekriegen und gegenseitig blockieren, um dann wieder gemeinsam die egoistischen Gruppeninteressen der mehrtausendköpfigen Generalität beider Institutionen durchzusetzen, ist Derartiges aus Belarus nicht bekannt.

Weder dem Verteidigungsminister Generaloberst Leonid Malzew noch dessen erstem Stellvertreter, Generalstabschef Sergej Gurulew, käme es wohl in den Sinn, gegen das Primat der Politik öffentlich zu opponieren, wie es sich ihre ehemaligen Kameraden der Sowjetarmee und jetzigen Spitzenmilitärs der russischen Armee immer wieder herausnehmen. Das mag teilweise auf den autoritären Führungsstil des Präsidenten Lukaschenko zurückzuführen sein, letzteres reicht aber zur Erklärung bei weitem nicht aus. Belarus hatte 1992 einfach das Glück, weder den UdSSR-Generalstab noch das sowjetische Verteidigungsministerium mit dessen aufgeblähtem Bürokratenapparat zu erben. Die Generale des belorussischen Rotbanner-Militärbezirkes, aus denen sich die jetzige Führung der Armee von Belarus vorrangig rekrutiert, waren im Gegensatz zu vielen »Lamettaträgern« in der Moskauer Zentrale erprobte Truppenführer und hatten ihr Handwerk von der Pike auf gelernt.

Reine Verteidigungsarmee

Aber auch im Hinblick auf die militärpolitischen Grundsatzkonzeptionen überrascht Belarus. Besonders der Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999, aber auch die Vorbereitung und Durchführung des Irak-Krieges haben in Belarus das konzeptionelle militärtheoretische und -politische Denken geprägt und die Formulierung einer eigenständigen Militärpolitik sichtlich beschleunigt.

Am 12. Dezember 2001 wurde die neue Militärdoktrin von Belarus vom Parlament angenommen, nachdem dort vorher bereits die »Konzeption der nationalen Sicherheit der Republik Belarus« erneuert und vom Präsidenten abgesegnet worden war. Im November 2001 unterschrieb Lukaschenko die »Konzeption des Aufbaus der Streitkräfte der Republik Belarus bis 2010« und weitere Vorgaben für die Streitkräfte. Schaut man sich diese und die nachfolgenden Grundsatzdokumente an, dann ist unstrittig, daß es sich hier um reine Verteidigungskonzeptionen handelt. Kampfeinsätze außerhalb des eigenen Territoriums sind nicht gestattet. Im Bündnis mit der Kernwaffenmacht Rußland sieht man die Garantie dafür, daß auch vielfach überlegene Staaten und Staatengruppierungen wie die NATO eine militärische Aktion gegen Belarus als aussichtslos beurteilen müssen. Die militärische Allianz mit Rußland ist ein wichtiger Kernpunkt der Sicherheitspolitik der jetzigen Minsker Regierung, während Teile der rechten Opposition eine Annäherung an die NATO bevorzugen. Die Republik Belarus bekennt sich nachdrücklich zum Völkerrecht und zur Rolle der UNO bei der Regelung strittiger Fragen. Dabei werden die Machtverhältnisse in den internationalen Organisationen realistisch bewertet.

Neuartiges Milizsystem

Erwähnenswert sind das System der Auffüllung und Ausbildung der Streitkräfte von Belarus sowie ein völlig neuartiger Reservistendienst. Dieser wurde erstmalig 2004 erprobt. 820 Reservisten leisteten parallel zu ihrer zivilen Tätigkeit ihren Wehrdienst. In diesem Jahr sollen schon 3 000 Soldaten die neue Dienstart absolvieren. Vieles deutet darauf hin, daß Belarus ein bisher beispielloses Kader-Territorial-Milizprinzip für seine Armee erprobt. Belarus hat die allgemeine Wehrpflicht für alle männlichen Bürger im Alter von 18 bis 27 Jahren und will dieses Prinzip auch künftig beibehalten. Der Wehrdienst in Belarus dauert 18 Monate. Die Wehrpflichtigen werden nach dem Territorialprinzip einberufen und dienen in der Nähe ihrer Wohnorte. Das ist offensichtlich einer der Gründe, weshalb aus belorussischen Truppen kaum noch von der in Rußlands Armee nach wie vor grassierenden »Dedowtschina«[3] berichtet wird. Auch daß seit 1995 Soldaten und Unteroffiziere als Berufssoldaten freiwillig dienen können, mag zur Verbesserung des Klimas in der Truppe beigetragen haben. Viel wichtiger scheint jedoch, daß im ganzen Land schon seit geraumer Zeit gegen Korruption, Chaos und Kriminalität mobil gemacht wird und sich nicht nur in der Armee Erfolge dabei zeigen. Viele Belorussen sind davon überzeugt, daß dies erst durch die »harte und konsequente Gesetzlichkeit« der jetzigen Macht möglich wurde.

Präsident Lukaschenko, der selbst einmal als Wehrpflichtiger diente und später zum Reserveoffizier ausgebildet wurde, läßt sich nicht nur oft in der Truppe blicken, er ist dort auch gern gesehen. Das hat er unter anderem auch mit einigen außergewöhnlichen Schritten erreicht. So wurde 1995 ein Konsultationsrat, der beachtliche Vollmachten besitzt und dem 49 Truppenoffiziere aller Dienstgradgruppen vom Leutnant bis zum Obersten angehören, ins Leben gerufen. Der Präsident begründete diesen Schritt mit der notwendigen demokratischen Kontrolle der Armeeführung von unten. Am 21. Mai 1997 konstituierte sich ferner die »Offiziersversammlung der Streitkräfte der Republik Belarus«. Im Beisein des Oberkommandierenden der Streitkräfte, Präsident Lukaschenkos, wurde nicht nur die »Verordnung über die Offiziersversammlung der Streitkräfte der Republik Belarus«, sondern es wurden auch die »Regeln der kollektiven Ehrengerichte der Offiziere der Streitkräfte von Belarus« verabschiedet. Das alles zeigt offensichtlich Wirkung. Die Offiziersstellen sind gegenwärtig zu 90 Prozent besetzt. Vor drei Jahren waren es erst 78 Prozent gewesen. Anwärter auf Unteroffiziers- und Fähnrichstellen finden sich ausreichend. Im Gegensatz zu Rußland verlassen junge Offiziere kaum mehr die Streitkräfte, sondern sehen in ihnen eine Zukunft für sich und ihre Familien. Stück für Stück entstand so eine Armee, die nicht nur der »Dedowtschina« die Stirn bieten kann, sondern selbst Militärfachleute in Erstaunen versetzt.

Auf Angriff vorbereitet

Das war spätestens im Herbst 2001 nicht mehr zu übersehen, als belorussische Soldaten zur operativ-taktischen Übung »Neman 2001« ausrückten. Diese war allerdings keine Medienshow, wie sie der russische Verteidigungsminister Iwanow von Zeit zu Zeit für sich, seinen Präsidenten und die Öffentlichkeit inszeniert. Hier eroberten nicht zwei Kompanien eine von Terroristen besetzte Brücke, hier waren mehrere komplette Truppenteile aller Teilstreitkräfte im »realen Gefechtseinsatz«. Man erprobte die neue Verteidigungsdoktrin in der Praxis, und die Anlage der Übung zeigte, daß der angenommene Gegner technologisch hoch gerüstet war und nicht aus einem rückständigen Land der »dritten Welt« kam. Den anwesenden Journalisten und internationalen Beobachtern wurde erklärt, daß Belarus kein Land als wahrscheinlichen Gegner betrachte, sich auf Grund der internationalen Entwicklung aber gezwungen sehe, seine Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen. Letztmalig konnte sich die Öffentlichkeit im Oktober 2004 davon überzeugen, daß Belarus die eingeschlagene Richtung hartnäckig verfolgt. Die Übung »Schtschit Otetschestwa- 2004« (Schild der Heimat) probte erneut den Verteidigungsernstfall. In den ehemaligen Sowjetrepubliken findet man keine andere Armee, die wie die belorussische zweimal im Jahr mit einem Großteil der Truppen ins Manöver zieht. Alexander Lukaschenko nahm kein Blatt vor den Mund, als er vor Journalisten den Zweck der Übung erläuterte: »Wir haben dem UN-Sicherheitsrat ganz offen gesagt, daß uns … die Osterweiterung der NATO … und die Schaffung von Militärstützpunkten an unserer Grenze beunruhigt. Es steht die Frage: Warum macht man das? … Um die Antwort drückt man sich ... Deshalb üben wir! Zur Zeit wird zwar keiner einen militärischen Angriff gegen das gemeinsam mit Rußland auftretende Belarus wagen. Wir sollten trotzdem umfassend vorbereitet sein.«

Belarus vermeidet aber alles, was NATO oder USA als Provokation auffassen könnten, ja, man ist durchaus zur Kooperation bereit. So überraschte es nicht, daß Minsk die Einladung zur Übung »Cooperative Best Effort 2005«, die unter NATO-Ägide vom 6. bis 16. Juni in der Ukraine stattfinden wird, angenommen hat.

Kooperation mit Rußland

Rußland hat mittlerweile längst erkannt, welch unschätzbaren strategischen Stellenwert Belarus für seine nationale Sicherheit hat. Das geplante und bisher nur zum Teil funktionierende System der gemeinsamen Luftabwehr Rußland–Belarus ist dabei eines der Kernstücke der Kooperation. Rußland besitzt nur noch ein äußerst lückenhaftes Luftabwehrsystem, und auch die kosmischen Streitkräfte haben den Ausfall der Stationen und Komponenten im Baltikum und anderswo niemals völlig verkraftet. In Belarus befinden sich zwei militärstrategische Komponenten Rußlands, deren Verlust für Moskau nicht absehbare Folgen hätte. Das sind zum einen die Radarstation »Wolga« in der Nähe von Baranowitschi und zum anderen der Führungspunkt der Atom-U-Boot-Flotte Rußlands in Wilejka.

Mit der veränderten sicherheitspolitischen Lage und der rasanten militärtechnischen Entwicklung drängen sich folgende Fragen auf: Wie soll die kleine Verteidigungsarmee von Belarus ausgerüstet sein? Was scheint hinreichend und was kann man sich leisten?

Minsk verfolgt offensichtlich zwei Strategien. Erstens werden die vorhandenen Mittel modernisiert, und zweitens sollen neue Waffen und Ausrüstungen entwickelt, gebaut und angeschafft werden. Auch hier sucht man die Kooperation mit Rußland. Allein wäre Minsk, trotz einiger Kapazitäten, dazu schwerlich in der Lage. Auch für Rußlands Rüstung ist die Bedeutung von Belarus größer als gemeinhin vermutet. Was die Modernisierung anbetrifft, so seien nur die gemeinsamen Weiterentwicklungen MIG 29BM und SU 27UBM1 als Beispiel genannt. Die Liste der Kooperationsprojekte ist lang. Auf ein neues Wettrüsten mit dem Westen aber kann und will man sich augenscheinlich nicht einlassen. Alles in allem also eine eigenartige Symbiose zweier durchaus verschiedener Partner, die in ihrem Streitkräfteumbau offensichtlich verschiedene Wege gehen.

Abschreckende Wirkung?

Sind die Truppen von Belarus nun aber ein neuer Typus von Armee, gar eine neue Volksarmee? Nicht angriffsfähig, aber abwehrstark, klein, modern, mobil, von der Bevölkerung nicht nur als notwendiges Übel gelitten oder als Arbeitgeber akzeptiert, sondern als erforderlich und wichtig angenommen? Ist eine milizartige Territorialverteidigung, die auch dezentralisiert handeln kann, in der Lage, einen überlegenen und modern ausgerüsteten Angreifer abzuschrecken? Sind gegen diese Truppen Präzisionswaffen, aus Tausenden Kilometern Entfernung abgefeuert, wirkungslos und muß der Angreifer wieder auf Nahdistanz gehen, bei der sich die technische Überlegenheit schnell relativieren kann, wie man im Irak sieht?

Fußnoten
  1. Am 15. Mai 1992 von Armenien, Belarus, Kirgistan, Kasachstan, Usbekistan, Rußland und Tadschikistan unterzeichnet. Später traten Aserbaidschan und Georgien bei.
  2. An diesem Tag wurde das Gesetz »Über die Streitkräfte der Republik Belarus« vom Parlament in Minsk beschlossen.
  3. »Dedowtschina« (von russ. ded, Großvater), umgangssprachlicher, beschönigender Begriff für ein inoffizielles System von Mißhandlung, Schikane und Ausbeutung junger Wehrpflichtiger durch »altgediente« Militärangehörige, einschließlich Offizieren, das bereits in den letzten Jahren der Sowjetarmee existierte
* Der Beitrag erschien in zwei Teilen in der Tageszeitung "junge Welt", Teil 1 am 20. April, Teil 2 am 21. April 2005



Lukaschenko greift bei Rede zur Lage der Nation den Westen massiv an

Alljährlich gibt es in Belarus (Belorußland) eine von Präsident Alexander Lukaschenko gehaltene »Rede zur Lage der Nation«, in der die Leitlinien der Politik für die nächsten Monate umrissen werden und die die momentane politische und wirtschaftliche Lage des Landes reflektieren soll. Es handelt sich dabei um ein mediales Großereignis, das von Funk und Fernsehen übertragen wird und bei dem Parlamentarier sowie ausländische Diplomaten anwesend sind. Die diesjährige, am Dienstag live übertragene Rede endete indes mit einem Paukenschlag: Lukaschenko griff in seiner Ansprache den Westen massiv an, er beschuldigte die EU, die USA und insbesondere Polen, subversive Umtriebe in Belarus zu fördern, die den Umsturz der jetzigen Regierung zum Ziel hätten.

In der anfangs abgelesenen Rede bezeichnete der Präsident die »Orangene Revolution« in der Ukraine als durch westliches Geld finanziertes Banditentum. In Belarus werde es aber keine »bunte Revolution« geben, da dieses Land seine Unabhängigkeit wahren und nicht auf die Knie fallen werde. Keine Banditen und kein Geld, das jetzt säckeweise ins Land fließe, könne in Weißrußland einen Umsturz herbeiführen. Dieses Banditentum werde in Belarus durch ausländische Kräfte geschürt, denen das Schicksal des Landes gleichgültig sei, so Lukaschenko. Dem Westen gehe es vielmehr um die Verwirklichung der eigenen, imperialistischen Interessen, um die Eroberung neuer Märkte.

Schließlich legte Lukaschenko sein Manuskript zur Seite und wandte sich direkt an die westlichen Diplomaten: »Wir wissen ganz genau, was in euren diplomatischen Vertretungen vor sich geht, ich möchte insbesondere die Botschaft Polens warnen.« Die polnische Diplomatie schüre massiv ethnische Konflikte im Westen Belorußlands und bediene sich hierbei der polnischen Minderheit. Doch diese Versuche zur Destabilisierung des Landes würden scheitern, versicherte der Präsident.

An die Adresse der USA gewandt sagte Lukaschenko, daß Großmächte, die souveräne Staaten – wie den Irak – völkerrechtswidrig angreifen und besetzen, niemals als ein demokratisches Vorbild dienen könnten. Die amerikanischen und europäischen Destabilisierungsversuche würden scheitern, eine »Revolution« fände in Belorußland nicht statt, so Lukaschenko abschließend.
Tomasz Konicz
Aus: junge Welt, 21. April 2005






Zurück zur Belarus-Seite

Zurück zur Homepage