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Das Ende von Belgien?

Kleinstaaten für das internationale Kapitalmonopol: Wie die "Zeitung für Deutschland" die Landkarte Europas neu zeichnet

Von Andreas Wehr *

Nun also Belgien! Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die sich in ihren bisherigen Berichten über das Auf und Ab in der sich nun schon seit einem halben Jahr hinziehenden belgischen Regierungskrise mal belustigt, mal mäßig besorgt zeigte, sprach jetzt ihr Verdikt: »Das Ende von Belgien«, ausdrücklich ohne ein Fragezeichen versehen, lautete die Überschrift eines Zweispalters von Dirk Schümer im Feuilleton der »Zeitung für Deutschland« Mitte Dezember (siehe auszugsweise Dokumentation unten). Ganz so, als sei dieses Ende bereits eingetreten. Und genau so ist es auch gemeint. Zwar wird dem Gesamtstaat eine Gnadenfrist eingeräumt, da diesmal »der landestypische Kompromiß« wohl noch mal erzielt werde. Doch der kann nach Schümer nur »der letzte sein«. Und so macht sich der Autor bereits Gedanken darüber, was aus Brüssel, dem Königshaus und der »maroden Wallonie« anschließend werden soll.

Daß tatsächlich nur wenige im Land, bei aller Gereiztheit und Ratlosigkeit über die nicht endenwollende Regierungskrise, ernsthaft über eine Scheidung nachdenken, ist für Schümer nebensächlich: »Zwar spricht sich nur eine Minderheit von weniger als zwanzig Prozent der Belgier für eine sofortige Teilung aus, doch dürfte die Spaltung auf mittlere Sicht gar nicht mehr zu verhindern sein (...)«. Daß die in Europa einflußreiche Frankfurter Allgemeine mit Sympathie über eine Auflösung des Nachbarstaats schreibt, wird von den flämischen Separatisten aufmerksam registriert und als Ermutigung verstanden werden.

Wie bereits zuvor bei der Zerstörung Jugoslawiens, der Auflösung der Sowjet¬union und der Teilung der Tschechoslowakei ist auch jetzt wieder die Rede von einem »Kunststaat«, der zu Recht untergehe. Laut FAZ soll auch »Belgien als lukratives Kunstprodukt erschaffen« worden sein und »zwar von einem kleinen Kreis reicher Kulturfranzosen«. Da kann man nur staunen! Nicht etwa das von oben zusammengezimmerte, auf mittelalterlichen Dynastien errichtete und mit Hilfe eines Krieges aus der Taufe gehobene Bismarcksche Deutsche Reich war ein Kunststaat, nein, dies soll vielmehr das 40 Jahre zuvor gegründete Belgien sein. Und so zählen die seinerzeit beispiellose liberale und mo derne Verfassung und die dort gelebten Freiheitsrechte des 1830 gegründeten, ersten wirklich bürgerlichen Staates Europas nichts. Ein natürlicher und eben nicht »künstlicher« Staat ist nach Meinung Schümers offensichtlich nur einer, der sich durch einheitliche Sprache, ethnische Geschlossenheit und auch Blutsverwandtschaft der Stämme auszeichnet. Dies ist klassisch romantisch, durch und durch reaktionär und leider auch sehr deutsch. Wir wissen, wohin das bei uns geführt hat. Erst nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches konnte Deutschland – gut 90 (!) Jahre nach Gründung Belgiens – an jene dort vorweggenommene Entwicklung endlich anknüpfen.

»Kunststaaten« wären nach diesem Maßstab übrigens die meisten Länder der Welt. Und so ist das herbeigeschriebene Schicksal Belgiens denn auch nur ein Menetekel für Kommendes. In der Ankündigung des FAZ-Artikels heißt es: »Ein Staat zerfällt. Dieses Szenario werden wir bald noch häufiger erleben, bei den Schotten, den Kosovaren, auch den Südtirolern.«

Was zerreißt nun auch westeuropäi¬sche Staaten in einem historischen Augenblick, in dem sich doch Europa angeblich gerade vereint? Es ist genau jener europäische Einigungsprozeß, der ja nichts anderes ist als ein Ein- und Unterordnungsprozeß in das System der Globalisierung, der die Nationalstaaten sprengt. Lange war angenommen worden, daß die Grundfreiheiten der EU, der freie Waren-, Personen-, Dienstleitungs- und Kapitalverkehr allein die Mitgliedsstaaten in einen erbarmungslosen Standortnationalismus treibt. Nun machen sich auch die reichen Regionen dieser Länder auf, die innerstaatliche Solidarität aufzukündigen und notleidende Gebiete abzuschütteln. Im erbarmungslosen Kampf der Regionen jede gegen jede wird innerstaatliche Solidarität zu einem Luxus. In Belgien ist es Flandern, das dem »maroden Wallonien« angeblich »die Renten- und Sozialkassen alimentiert«. Die Schotten wollen die Einnahmen aus dem Nordseeöl nicht länger teilen, die Anhänger der italienischen Lega Nord nicht für den armen Süden zahlen, und die reichen Katalanen fühlen sich eh als ein eigenständiges Mittelmeervolk. Die Liste ließe sich um einige Kandidaten verlängern, auch um deutsche. »Aus deutscher Perspektive zeigt der Verfall Belgiens, daß eine Nation mit eingebautem Wohlstandsgefälle nur schwer überlebt«, resümiert Dirk Schümer. Und die FAZ weist schon mal den Weg: »Diese wohlhabenden Entitäten, denen der Nationalstaat des vorigen Jahrhunderts zu eng wird, eint der Wille, nach dem Loswerden der Zentralmacht und einer angepeilten ›Unabhängigkeit‹ schnellstmöglich der EU beizutreten.« Und so könnten statt der heute 27 bald 40 oder gar 50 Staaten diese Union bilden. Das internationale Monopolkapital wird es freuen, sind doch solche Kleinstaaten Wachs in ihren Händen.

Der Kapitalismus neoliberalen Zuschnitts macht sich auf, die Landkarte Europas neu zu zeichnen. Die nationalen Bourgeoisien sind an großen und einheitlichen Territorien immer weniger interessiert, spielen doch Grenzen dank der EU-Binnenmarktfreiheiten für den ungehinderten Kapital- und Warenfluß keine Rolle mehr. Doch Nationalstaaten sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in harten Klassenauseinandersetzungen und unter dem Eindruck des Vorbilds des Ostens auch Sozialstaaten geworden. In ihnen wird Solidarität durch den Transfer erheblicher Mittel zugunsten notleidender Regionen geübt. Dafür ist die EU kein Ersatz. Der Kampf für den Erhalt des Nationalstaats ist daher in erster Linie eine soziale Auseinandersetzung. Traditionelle und liebgewordene antietaistische Sichtweisen trüben in diesem Kampf nur den Blick auf die wirklichen Gefahren.

* Aus: junge Welt, 31. Dezember 2007

Daten und Fakten: Belgien

Die Bevölkerung Belgiens wird in der Regel in Sprachgruppen eingeteilt. Die niederländischsprachigen Flamen stellen ca. 60 Prozent der Bevölkerung. Die Wallonen und die französischsprachigen Bewohner der Region Brüssel-Hauptstadt und ihres Umlandes werden meist zusammenfassend als französischsprachige Belgier bezeichnet; sie stellen zirka 40 Prozent der Einwohner des Landes. Hinzu kommt die kleine deutschsprachige Gruppe im Osten des Landes mit unter einem Prozent.

Belgien ist seit 1993 ein Bundesstaat, der aus »Gemeinschaften« und »Regionen« besteht. Es gibt drei (Kultur-)Gemeinschaften, die Flämische, die Französische und die Deutschsprachige. Die Zuständigkeiten sind eher kultureller Art und beinhalten unter anderem das Unterrichtswesen. Daneben existieren in Belgien drei Regionen, nämlich die Flämische, die Wallonische sowie die Brüsseler (oder Region Brüssel-Hauptstadt). Die Regionalkompetenzen umfassen unter anderem den Wirtschaftsbereich und die Raumordnung.

Angesichts der monatelangen Regierungskrise hatte Belgiens König Albert II. in seiner Weihnachtsbotschaft zur Einheit des Landes aufgerufen. Er gewinne manchmal den Eindruck, »daß unsere Beziehungen zum Ausland besser organisiert und strukturiert sind als die inländischen«. Dabei sei gerade die Fähigkeit zum Kompromiß eine Tugend des belgischen Volkes und habe jetzt zumindest eine funktionsfähige Übergangsregierung möglich gemacht.

Letztere wurde am 21. Dezember– rund ein halbes Jahr nach der Parlamentswahl – von Albert vereidigt und gewann am 23. Dezember die Vertrauensabstimmung im Parlament. Der alte und neue Ministerpräsident Guy Verhofstadt soll nun bis Ostern regieren. Danach will er das Amt an Yves Leterme abtreten, den Sieger der Parlamentswahl vom Juni.
(aw/jW)




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