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Krise ohne Ende

Belgien ist seit fast einem Jahr ohne Regierung, aber beim Krieg in Libyen dabei

Von Arne Baillière *

Fast ein Jahr nach den Wahlen vom 13. Juni 2010 hat Belgien noch immer keine neue Regierung. Nun scheint Bewegung in die endlosen Versuche zu kommen, eine Parlamentsmehrheit zu erreichen. Die Verhandlungen werden jetzt von Elio di Rupo, dem wallonischen Vorsitzenden der Sozialdemokratische Partei (PS), geführt. Damit endete ein monatelanges Versteckspiel zwischen Di Rupo und dessen politischem Hauptkontrahenten Bart De Wever, dem Vorsitzenden der flämisch- nationalistischen NV-A (Neue Flämische Allianz). Diese Partei, die für eine Loslösung des flämischen Landesteils von Belgien eintritt. ist nach einem kometenhaften Aufstieg bei den Nationalwahlen im vergangenen Jahr zur führenden politischen Kraft in Flandern geworden. Di Rupo versucht nun, mit neun kleineren Parteien eine Koalition zu bilden, deren Hauptaufgabe es sein würde, bis 2015 von der EU geforderte Kürzungen im Staatshaushalt in Höhe von mehr als 17 Milliarden Euro umzusetzen.

Das belgische Wahlsystem sieht vor, daß die Parteien nur in jeweils einem Teilstaat Stimmen werben müssen. Dadurch jedoch ist seit den letzten Wahlen eine Situation entstanden, daß die größten politischen Kräfte der jeweiligen Regionen sich nicht auf die Bildung einer nationalen belgischen Regierung einigen können. Während die N-VA die belgische »Transferunion«, in der »flämisches« Steuergeld in die Wallonie fließt, beenden will, sieht die PS darin einen Angriff auf den sozialen Zusammenhalt des Landes. Die anhaltende Krise zieht mittlerweile auch die belgische Wirtschaft in Mitleidenschaft und führte zu einer Abstufung des Landes durch die Ratingagentur Fich.

Im Kontrast zu diesem langwierigen Prozeß steht die Eile, mit der das belgische Parlament einstimmig die Beteiligung belgischer Truppen am Krieg gegen Libyen abgesegnet hat. Die noch geschäftsführend amtierende Regierung unter dem christdemokratischen Premier Yves Leterme wurde dazu von den Parlamentariern mit allen benötigten Befugnissen ausgestattet. Unterstützt wurde er dabei nicht nur von Grünen und Sozialdemokraten, sondern auch von der NV-A, die ihren Aufstieg einem Auftreten als neue Kraft gegen das Establishment zu verdanken hat.

Belgien beteiligt sich mit acht F16-Düsenjägern und zwei Minenräumbooten an den Angriffen auf das nordafrikanische Land. Nach drei Monaten Einsatz ist das dazu bewilligte Gesamtbudget von zwölf Millionen Euro schon um über 1,5 Millionen überschritten. Solche Zahlen stoßen bei der belgischen Bevölkerung zunehmend auf Widerspruch, weil sie in deutlichem Kontrast zu den angekündigten Kürzungen in Milliardenhöhe ausdrücken, die sich bereits jetzt in Form von Erhöhungen des Renteneintrittsalters und Beschränkungen im Sozialbereich ankündigte.

* Aus: junge Welt, 6. Juni 2011


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