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Streik der Weißkittel

Boliviens Ärzte protestieren gegen Gesundheitspolitik der Regierung

Von Benjamin Beutler *

Mit geradezu stoischer Geduld trat Boliviens Präsident Evo Morales am Freitag vor die Presse und erklärte, das Dekret Nr. 1126 werde mit sofortiger Wirkung auf Eis gelegt. Vor 40 Tagen hatte Morales mit dieser Anordnung die Arbeitszeit der Beschäftigten im Gesundheitswesen von sechs auf acht Stunden verlängert. Boliviens Medizinerverband warnte daraufhin vor »Ausbeutung« und »Überlastung«, die weißen Kittel gingen auf die Barrikaden. Wie immer, wenn es gegen die Linksregierung geht, spielten die Medien mit. Bilder von aufgebrachten Medizinstudenten, die sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, und Blockaden von Nationalstraßen flimmerten unermüdlich über die Privatsender, hochrangige Funktionäre des Ärztekollegiums traten medienwirksam in den Hungerstreik. Ein Monat lang standen die Krankenhäuser im ganzen Land still, Zehntausende Patienten blieben ohne Behandlung. Nur eine Notversorgung durch die Behörden, die teilweise mit Ärzteteams aus Kuba sichergestellt wurde, konnte einen völligen Kollaps verhindern. Am Samstag kündigten die Streikenden als Reaktion auf die Erklärung des Staatschefs ihrerseits eine Aussetzung ihres Ausstandes an.

Morales, der in bitterer Armut aufwuchs und von dem vier Geschwister vor dem zweiten Geburtstag wegen fehlender Gesundheitsversorgung starben, zeigt in seiner Ansprache kein Verständnis für die Proteste. »Ich war überzeugt, daß dies eine Lösung für die in Sachen Gesundheit am meisten Benachteiligten bringt«, erinnerte Boliviens erster indigener Präsident daran, daß die Verlängerung der Arbeitszeit auf einem nationalen Gipfeltreffen von Politik, sozialen Organisationen, Gewerkschaften und Wirtschaft in Cochabamba im Dezember 2011 beschlossen worden war. Die Proteste hätten jedoch gezeigt, so Morales, daß »einige Gruppen diesen tiefgreifenden Wandel für mehr Dienstleistungen und Gesundheit nicht akzeptieren«. Nun soll eine »Gesundheitsgipfel« im Juli die Karten neu mischen, so der Vorschlag aus dem Regierungspalast.

Die Mediziner argumentieren, der Staat gebe zu wenig Geld für die Gesundheitsversorgung aus. Morales weist dies zurück. Seit seinem Regierungsantritt 2006 seien über 800 Krankenhäuser und Praxen gebaut worden, neue Krankenwagen und Dialysestationen wurden angeschafft, massive Finanzhilfen aus dem Ausland akquiriert. Wurden 2005 noch 180 Millionen US-Dollar für Gesundheit ausgegeben, waren es 2011 schon mehr als 320 Millionen, rechnete Gesundheitsminister Martín Maturano vor. »Es ist also falsch, daß der Staat nicht in die Verbesserung des Gesundheitssystems investiert«, kritisierte er den mangelnden Einsatzwillen der Ärzteschaft im ärmsten Land Südamerikas. Viel bewegt hat auch der Mutter-Kind-Bonus »Azurduy«. Seit 2009 richtet sich dieses Programm an arme, nichtversicherte Mütter mit dem Ziel, die Mütter- und Kindersterblichkeit zu senken. Schwangeren werden bei vier pränatalen Untersuchungen je 50 Bolivianos (etwa 5,53 Euro) ausgezahlt, bei Geburt im Krankenhaus oder in einer Geburtsstation und anschließender Nachsorgeuntersuchung nochmal 120 Bolivianos (13,27 Euro). Dieselbe Summe gibt es noch einmal für jede Teilnahme der Kinder an Untersuchungen in den ersten zwei Lebensjahren, die alle zwei Monate erfolgen. Damit hat eine Frau mit Kind innerhalb von 33 Monaten einen Gesamtanspruch von umgerechnet gut 200 Euro.

Bislang verzeichnet Bolivien nach Haiti die zweithöchste Kindersterblichkeit des Kontinents. Laut UN-Angaben starben 2008 fast 14000 Kinder vor ihrem ersten Geburtstag.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 7. Mai 2012


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