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Bolivien wird umarmt

Rohstoffe gegen Investitionen: Südamerikas Wirtschaftsgroßmacht Brasilien vereinbart mit dem kleineren Nachbarn umfangreiches Wirtschaftsabkommen

Von Andreas Knobloch *

Brasilien und Bolivien haben in dieser Woche großes verkündet: Das umfangreichste Wirtschaftsabkommen in der Geschichte beider Staaten. Bei den am Mittwoch in La Paz vorgestellten Plänen geht es um die Rohstoffversorgung der größten südamerikanischen Wirtschaftsmacht und um dem Ausbau der industriellen Infrastruktur Boliviens. Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva hatte eigens seinen Sonderbeauftragte Marco Aurelio García in die bolivianische Hauptstadt geschickt, um das Vorhaben unter Dach und Fach zu bringen.

Umgerechnet bis zu 32 Milliarden US-Dollar sollen investiert werden. Brasilien steigt damit zum größten Finanzier und Bauherrn in Bolivien auf. »Wir wollen hier keine neuen Patiños sein, die große Krater in Bolivien hinterlassen, ohne daß Arbeitsplätze entstehen, Reichtum geschaffen, und die bolivianische Wirtschaft diversifiziert wird«, verkündete García nach einem Treffen mit Staatschef Evo Morales. (Simón I. Patiño, der als »Zinnbaron« in die Geschichte einging, war ein Unternehmer, der durch Ausbeutung der Erzvorkommen im bolivianischen Hochland in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu einem der reichsten Männer der Welt aufgestiegen war. Die Bevölkerung oder das Land hatten nichts davon.) García versicherte nachdrücklich, daß Brasilien an der wirtschaftlichen Entwicklung des Nachbarlandes interessiert sei. Gleichzeitig baut es seine politische und wirtschaftliche Vormachtstellung in der Region weiter aus.

Die Ankündigung der Projekte erfolgte drei Tage, nachdem bei den Regionalwahlen zwar eine große Mehrheit für Morales Wahlbündnis Movimiento Al Socialismo (MAS) stimmte, dieses gleichzeitig aber viele wichtige Bürgermeisterposten an die Opposition verlor.

Bislang galt ein 1999 geschlossener Vertrag, der für zwanzig Jahre den Kauf von täglich ungefähr 30 Millionen Kubikmeter Erdgas aus Bolivien regelt, als wichtigstes Wirtschaftsabkommen beider Länder. Das soll trotz neuentdeckter brasilianischer Lagerstätten weitergeführt werden. Und Bolivien ist wirtschaftlich von diesen Exporten abhängig. Knapp Dreiviertel seines geförderten Erdgases landen beim großen Nachbarn. In der Vergangenheit war es zu Irritationen gekommen, nachdem Brasilien einseitig erklärt hatte, seine Importe reduzieren zu wollen, die später aber wieder revidierte.

Jetzt wird kräftig in Bolivien investiert: So hat der brasilianische Konzern Braskem vorgeschlagen, an der gemeinsamen Grenze für zwei bis drei Milliarden Dollar ein petrochemisches Werk zu errichten. Auf dem Treffen mit Garcia schlug Morales die Schaffung eines multinationalen Unternehmens vor, das auf bolivianischem Territo­rium eine Eisenbahnlinie errichten soll, die Brasilien mit dem Pazifischen Ozean verbindet. Dies würde den Handel zwischen beiden Ländern, vor allem aber dem mit Asien, neuen Schwung verleihen. Die Linie soll Puerto Suárez im Osten mit Pisiga in der Andenregion an der Grenze zu Chile verbinden. »Die Handelsverbindungen Brasiliens mit dem asiatischen Kontinent und Boliviens strategische Lage ermöglichen eine sehr interessante Kombination, sowohl für die Exporte der Region als auch für die nationalen Ausfuhren«, so die bolivianische Planungsministerin Viviana Caro. Von brasilianischer Seite wurde der Vorschlag »interessiert« aufgenommen. Neben Brasilien lud Morales auch andere Regierungen und Unternehmen der Region und Asiens ein, sich an dem Projekt zu beteiligen: China, den größten Importeur brasilianischer Waren, Indien, das in die Eisenerzeugung Boliviens investiert, Südkorea, den größten Abnehmer bolivianischer Metalle, sowie Uruguay, Peru und Paraguay.

Als langfristiges Projekt soll die Eisenbahnlinie die aktuellen Straßenbauprojekte ergänzen, die Atlantik und Pazifik zu verbinden suchen. Erst am Dienstag hatte die Regierung Morales ein Gesetz verkündet, das die im August vergangenen Jahres während Lulas Besuch in Bolivien unterzeichneten Verträge über die Finanzierung einer Straßenverbindung billigt, die die Regionen Cochabomba (Zentrum) und Beni (Osten) verbindet. Die Opposi­tion hatte dies lange blockiert. Nach dem überzeugenden Wahlsieg von Morales’ MAS im Dezember ermöglichte die dabei errungenen Zweidrittelmehrheit im Parlament die Annahme des Gesetzes. Die Straße ist Teil des »Zwei-Ozeane-Korridor« genannten Projektes, das den Atlantikhafen Santos in Brasilien mit Iquique am chilenischen Pazifik verbinden soll. Bauherr ist der brasilianische Konzern OAS.

Doch das ist nicht alles, was die Konzerne des boomenden Schwellenlandes in Bolivien vorhaben: So bot das Bergbauunternehmen Vale do Rio Doce an, eine Milliarde US-Dollar in den Abbau von Kalium und eventuell Lithium in Uyuni in der südöstlichen bolivianischen Andenregion Potosí stecken. Die Staatskonzerne Ende (Bolivien) und Eletrobras wollen eine Reihe von Wasserkraftwerken auf bolivianischem Territorium bauen. Der dabei gewonnene Strom ist vor allem für den brasilianischen Markt bestimmt. Die Staudammprojekte in Cachuela Esperanza, Miguillas, Rositas und El Bala im Amazonasbecken haben zusammen eine Kapazität von fast 10000 Megawatt.

Caro und García verlauteten unabhängig voneinander, daß der staatliche brasilianische Erdölkonzern Petrobras neue Investitionen zur Öl- und Gasförderung in Bolivien plane. Brasilien öffnete indes seinen Markt für bolivianische Textilprodukte, die in einem Volumen von bis zu 21 Millionen US-Dollar jährlich eingeführt werden können. La Paz erhofft sich damit den Ausgleich seiner empfindlichen Verluste auf dem geschrumpften US-Markt.

* Aus: junge Welt, 10. April 2010


Weg aus der Abhängigkeit

Milliardenprogramm soll Boliviens Wirtschaft auf eigene Füße stellen

Von Benjamin Beutler **


Noch immer lebt Bolivien vom Verkauf seiner Bodenschätze, statt sie vor Ort weiter zu verarbeiten. Das soll sich bald ändern: Am Mittwoch hat Brasilien massive Investitionen im armen Nachbarland angekündigt.

Kapitalkräftige brasilianische Multis wie die staatliche Erdölfirma Petrobras, der Treibstoffhersteller Braskem, das Elektrounternehmen Eletrobras, der Bergbaugigant Vale und auch Baufirmen wollen Geld in die bolivianische Infrastruktur und die Industrialisierung von Gas, Öl und Mineralien pumpen, gaben Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera und Brasiliens Gesandter Marco Aurelio García bei der Verabschiedung des vom Volumen her einmaligen Abkommens bekannt. »Die Idee ist, dass Brasilien trotz seiner Gasfunde von Presal im Atlantik weiter Gas aus Bolivien importiert«, so Aurelio.

»Uns interessieren keine neuen Patiños, die große Vermögen in Bolivien machen ohne Jobs zu schaffen, den Reichtum außer Landes bringen und die Wirtschaft nicht diversifizieren«, versprach García. Zinnbaron Simon Patiño war Mitte des letzten Jahrhunderts einer der reichsten Männer der Welt, Bolivien aber blieb arm. Braskem könnte dringend nötige Treibstoffraffinerien bauen, Eletrobras Staudämme zur Stromgewinnung, Vale zockt mit im Poker um die größten Lithiumvorräte der Welt.

Boliviens Dilemma – die Exportabhängigkeit – zeigen jüngste Zahlen: Zwar stiegen die Einnahmen aus dem Außenhandel im Januar und Februar im Vergleich zu 2009 um 20 Prozent von 775 Millionen auf 905 Millionen US-Dollar, so das »Nationale Institut für Statistik« (INE). Im ärmsten Land Südamerikas wiegt das strukturelle Erbe aus spanischer Kolonialzeit aber weiter schwer. Wichtigster Sektor ist der Bergbau. Mit 67 Prozent Zuwachs bleibt der Rohstoffabbau Zugpferd Nummer eins. Allein der Verkauf von Zink schnellte um 110 Prozent nach oben, gefolgt von Silber (plus 33 Prozent).

Die Linksregierung in La Paz ist sich des Problems bewusst. »Ich habe meine Minister gefragt, wenn es ein Erdbeben oder andere Naturkatastrophen gibt und die Förder- und Transportanlagen in Tarija und Santa Cruz zerstört werden, geht unserer Wirtschaft dann nicht zugrunde?«, dachte Präsident Evo Morales zuletzt über die Anfälligkeit der Wirtschaft nach. »Bolivien muss seine Produktion diversifizieren, um nicht ausschließlich vom Gas- und Mineralienexport abzuhängen«, so der Staatschef anlässlich der Ankündigung eines Milliardeninvestitionsplans vor Ostern. Von 2010 bis 2015 sollen 32 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung gepumpt werden.

Der »Plan Patria«, der das jährliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 16,418 Millionen US-Dollar (Stand 2009) verdoppeln wird, soll Bodenschätze vor Ort industrialisieren, rund 50 000 Jobs schaffen und den Zugang zu Wasser, Strom und Telekommunikation im ganzen Land ermöglichen. Das Geld soll teils aus eigenen Reserven, teils durch Kredite etwa der »Interamerikanischen Entwicklungsbank« (BID) beschafft werden. Die Morales-Administration sieht sich in ihrer Wirtschaftspolitik bestärkt, im Krisenjahr 2009 verzeichnete Bolivien als einzige Nation Südamerikas Wachstumsraten.

Mit rund 25 Milliarden US-Dollar soll der Mammutanteil in den Aufbau einer verarbeitenden Industrie investiert werden. Das geflügelte Sprichwort, Bolivien sei ein Bettler auf einem goldenen Stuhl, soll Vergangenheit werden. Möglich wäre es: Immerhin verfügt Bolivien über die zweitgrößten Gasvorkommen Südamerikas, die weltweit größte Eisenerzmine; am Salzsee »Salar de Uyuni« liegt der Lithiumschatz.

Um die Ziele bezahlen zu können, pumpt die staatliche Energiefirma YPFB heute mehr Erdgas denn je in die Nachbarländer. Bei einem Besuch von Argentiniens Präsidentin Christina Kirchner wurde eine Erhöhung der Gaslieferungen von 7,7 Millionen auf 13 Millionen Kubikmeter täglich bis 2013 vereinbart. Dann soll eine neue Pipeline vom Megagasfeld Margarita – zu 37,5 Prozent vom spanischen Multi Repsol ausgebeutet – gen Rio de la Plata fertig sein. An Brasilien liefert Bolivien bereits 30 Millionen Kubikmeter pro Tag.

** Aus: junge Welt, 10. April 2010


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