Boliviens zersplitterte Macht
Raúl Zibechi wirft einen Blick auf die Organisationsform der Aymara im Andenstaat
Von Simón Ramírez-Voltaire *
Er ist der passendste Vorwortschreiber, den der Verlag für dieses Buch finden konnte: Der in Puebla (Mexiko) lehrende Politikwissenschaftler John Holloway setzt die Lesenden sogleich auf die Spur - mit einem Vorwort, das vibriert: irgendwo zwischen Inspiration und Revolte.
Der Text des uruguayischen Journalisten Raúl Zibechi »Bolivien - Die Zersplitterung der Macht« knüpft an die zapateske Rebellen-Poesie an. Zentral ist in der ersten Hälfte des Buches die Interpretation der Massenproteste von 2000 und 2003 in den Städten El Alto und Cochabamba als eine andine Variante der an Antonio Negri angelehnten prophetistischen Vision einer Massenbewegung aus autonomen Produzentinnen und Produzenten: dezentriert und dennoch koordiniert - machtvoll, aber nicht auf den Staat bezogen.
In den »Kriegen« um Wasser und Erdgas habe es keine Trennung zwischen Führern und Geführten gegeben: »Es waren Aufstände, die außerhalb der Gewerkschafts-, Bauern- oder Parteiverbände organisiert und gewonnen wurden, ohne ein oben und unten.«
Im Zentrum dieser rebellischen Netzwerke stehe die in El Alto »neu erfundene« städtische Gemeinschaft - eine andine Form der Kollektivität, in den Erfahrungen der indigenen Aymara-Welt, der historischen Bauern- und Minengewerkschaften, der Migration, der urbanen Armut und des Kolonialismus verschmelzen. Eine wichtige Ressource sei die Aymara-Ordnung, die Macht und Gemeinschaft nicht spalte, sondern in Räten vereine - ein anti-staatliches Prinzip.
Ziemlich exakt nach der Hälfte des Buches vollzieht Zibechi eine erstaunliche Wende. Nun behandelt er Probleme und Widersprüche der zuvor glorifizierten Organisationsform. Die Aymara-Netzwerk-Gemeinschaft werde von Institutionalisierungsprozessen und staatlichen Kooptierungsversuchen durchzogen und zum Teil davon überformt. So im Fall der »Föderation der Nachbarschaftsräte« (FEJUVE), die für Zibechi bereits eine Art Verstaatlichung der sozialen Prozesse darstellt. Die FEJUVE sei eine Brücke zum Staat, ein Herd der Korruption: »Der Klientelismus zwischen Führern der Nachbarschaftsvereinigungen, den politischen Parteien und dem Staatsapparat war ein offenes Geheimnis«.
Während sich die erste Hälfte des Buches einer Sprache bedient, die zur Revolutionsfolklore im Stil von weltweitem Zapatismus, argentinischen Piqueteros & Co. geworden ist, so beeindruckt der zweite Teil mit seiner präzisen und kritischen Analyse der Situation in El Alto in den 1990er Jahren. Die Darstellung der Prozesse um die Partei CONDEPA (etwa: »Vaterlandsbewusstsein«) sind zutreffend als Versuche geschildert, Staat und Politik mit dem urbanen Aymara-Territorium zu verknüpfen. Danach folgt eine kritische Auseinandersetzung mit der in El Alto nicht selten praktizierten Lynchjustiz, die mit der kommunitären Rechtsprechung der Indigenen nichts mehr zu tun habe.
Im Epilog geht Zibechi mit der Regierung von Evo Morales ins Gericht: Die Schattenseiten seien größer als zu Regierungsbeginn erwartet. Die Schwierigkeiten seien nicht nur der Regierungspraxis des Vereinnahmens und Korrumpierens im CONDEPA-Stil geschuldet, sondern auch dem erbitterten Konflikt mit der Oligarchie im Tiefland. Zibechi hat in seinen Text viele Interviewpassagen unter anderem mit dem Vizepräsidenten Alvaro García Linera und dem ehemaligen Erziehungsminister Felix Patzi eingeflochten. Ein dynamisches Buch: poetisch, analytisch, am Schluss kritisch.
Raul Zibechi: Bolivien - Die Zersplitterung der Macht. Mit einem Vorwort von John Holloway. Hamburg: Edition Nautilus, 2008, 192 Seiten, 15,90 Euro.
* Aus: Neues Deutschland, 14. Juli 2009
Zurück zur Bolivien-Seite
Zurück zur Homepage