Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Andiner Sozialismus

Zwei Bücher über das heutige und das historische Bolivien

Von Helge Buttkereit *

Was ist die Neugründung Boliviens? Eine Revolution? Eine Konterrevolution? Oder gar beides? Raúl Zibechi, uruguayischer Journalist und Soziologe, scheint letzteres in Betracht zu ziehen - wenngleich er den Begriff der Konterrevolution nicht weiter diskutiert. Aus Sicht der autonomen sozialen Bewegungen in Boliviens zweitgrößter Kommune El Alto (bis 1985 noch Teil der Hauptstadt La Paz), die er genau studiert, deren Dynamik er miterlebt hat und mit der er sympathisiert, ist seine Haltung zumindest zum Teil verständlich. Denn deren Erfolge in El Alto rühren von einer »Zersplitterung der Macht« her - so der Untertitel von Zibechis Buch über das aktuelle Bolivien. Die verschiedensten Gruppierungen, die in divergierenden Teilbereichen erfolgreich waren, wurden durch die Bewegung zum Sozialismus (MAS) von Präsident Evo Morales kanalisiert. Dadurch, so Zibechi, drohe ihre Schlagkraft verloren zu gehen. Aber ist diese überhaupt noch nötig, wo mit Morales ein Vertreter der sozialen Bewegungen auf dem Präsidentenstuhl sitzt? Zibechi ist sich dessen nicht sicher, auch wenn er derzeit noch auf Morales zu setzen scheint. Sein Buch, erschienen in der Reihe »Nautilus Flugschriften«, läßt viele Fragen offen. Auch diese.

Gemeinschaften

»Die Revolution trägt (...) zur Geburt der neuen Welt bei, aber sie erschafft sie nicht«, schreibt Zibechi in Anlehnung an Marx. Genau dies sei in Bolivien zu beobachten. Hier bildeten sich autonome Gemeinschaften als Vorläufer einer solidarischen Gesellschaft nicht nur auf dem Land, wo sie in Gestalt des indigenen »Ayllus«, der Dorfgemeinde, ohnehin vielerorts existierten, sondern vor allem in der Stadt. Diesen Assoziationen gelang es, so die These von Zibechi, durch organische Verbindung von politischer Organisation und Organisation des Alltags den Staat zu unterhöhlen. Das »gehorchende Befehlen« sei ihr Merkmal. Die herkömmlichen Institutionen seien so zunächst geschwächt und schließlich 2003 durch den Sturz des damaligen Präsidenten Sánchez de Lozada in Frage gestellt. Evo Morales' Wahlsieg im Januar 2006 war daher folgerichtig.

Für Zibechi kommt es nun darauf an, inwieweit es gelingt, daß die antikapitalistischen Zusammenschlüsse die Führung des Veränderungsprozesses übernehmen und nicht vom Staat aufgesogen werden. Das wäre aus seiner Sicht »konterrevolutionär«. Zibechi selbst plädiert für einen kommunitären, andinen Sozialismus, der sich an den Zapatisten im mexikanischen Chiapas orientiert. Leider aber gelingt es dem Autor nicht, seinen Sozialismusbegriff klar faßbar zu machen. Er setzt auf Bewegungen, deren eigene Dynamik und die jeweiligen Erfordernisse. So richtig der Ansatz, so rasch gehen Inhalt und Ziel verloren. Der emanzipatorische Kern dieser Vereinigungen droht beliebig zu werden. Dabei ist die besondere Gemeinschaftsform des »Ayllus« - die er nur ansatzweise beschreibt, aber zu wenig analysiert - ein anregendes Beispiel für die Organisation einer neuen Welt »von unten«, die von staatlichen Stellen schwer zu bekämpfen ist.

Familienbetrieb

Wer aus Zibechis Thesen und seiner Beschreibung eines Ausschnitts der bolivianischen Wirklichkeit - er konzentriert sich auf El Alto und bezieht ländliche Regionen nur am Rande ein - einen Nutzen ziehen will, dem bleibt eine weitere Beschäftigung mit der bolivianischen Geschichte, Kultur und Gesellschaft nicht erspart. Da paßt es, daß jüngst in der »Beck'schen Reihe« eine Neuauflage des Länderporträts Boliviens erschienen ist. Thomas Pampuch und Augustín Echalar beschreiben darin sowohl die historische als auch die aktuelle Situation - und das mit Sympathie für die jüngsten Entwicklungen. Treffend fassen die Autoren - der eine Deutscher, der andere Bolivianer - die klientelistische Situation des »alten« Boliviens dabei wie folgt zusammen: »Manchmal hatte man den Eindruck, Bolivien sei nichts anderes als ein schlecht geführter Familienbetrieb. Der Betrieb wird derzeit an die Arbeiter übergeben.«

Die Autoren bemühen sich ansonsten um eine möglichst ausgeglichene Beschreibung. So entsteht ein vielfältiges Bild eines gespaltenen Landes, in dem zwar mittlerweile die Mehrheit die Macht übernommen hat, die Minderheit aber über die größten ökonomischen Ressourcen verfügt. Bedauerlich ist, daß es Pampuch und Echalar zu wenig gelingt, eine Verknüpfung zwischen dem ersten Hauptteil ihres Buches zur politischen Geschichte und den anderen Teilen zur Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur herzustellen. Da jeder Abschnitt für sich durch Prägnanz und Klarheit besticht, läßt sich das verschmerzen. Beides fehlt leider in Zibechis Darstellung der sozialen Bewegungen.

Raúl Zibechi: Bolivien - Die Zersplitterung der Macht. Edition Nautilus, Hamburg 2009, 189 Seiten, 15,90 Euro

Thomas Pampuch/Augustín Echalar: Bolivien. Verlag C.H. Beck, München 2009, 200 Seiten, 12,95 Euro


* Aus: junge Welt, 22. Juni 2009


Zurück zur Bolivien-Seite

Zurück zur Homepage