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Rückhalt aus den Bergen

Der Wandel in Bolivien wird von den Bewohnern des Hochlandes getragen. Sie fordern Rechte ein, die ihnen Jahrhunderte verwehrt wurden

Von Irene Eckert *

Das Andenland Bolivien betört den Besucher mit atemberaubender Naturschönheit. Blaubraun erheben sich die Bergriesen über der vom Kolonialstil geprägten Stadt Sucre. Grün-golden schimmern die Kolibris an orangefarbenen Blütenkelchen. El Fuerte, ein Ruinenfeld der Inkas, erinnert unweit an bessere Zeiten, in denen die Armut der heutigen Tage den Menschen noch fremd war. Damals hatten sie ihre Landwirtschaft wissenschaftlich geplant, ein ausgeklügeltes Versorgungssystem sicherte den Wohlstand. Lange vor der »Entdeckung der Neuen Welt« durch den ersten Kolonialherren Christoph Kolumbus. Das schwere Erbe seines Eroberungsfeldzuges tragen die landesweit 36 Volksgruppen bis heute.

Ein gleißendes Sonnenlicht flutet die Täler der Anden auch an winterlichen Tagen, während feuchte, manchmal eisige Kälte die Nächte beherrscht. Das ist die Welt der Nachkommen der Inka. Seit der Zerstörung ihres alten Reiches sind sie in dieser Umgebung zu wahren Überlebenskünstlern geworden. Frauen zaubern mit ihren Händen schöne Dinge, die sie zum Kauf feilbieten. Für den Touristen ist es ein nettes Mitbringsel. Für die Hersteller sind diese Handarbeiten ein Beitrag zum Überleben.

Kommt man nach Santa Cruz de la Sierra, ist es, als ob man eine neue Welt betritt. Ende Juli vergangenen Jahres tagte in der modernen Stadt am Rand des bolivianischen Tieflands eine Woche lang eine Frauenkonferenz. Ausgerichtet wurde sie von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), einer der ältesten Nichtregierungsorganisationen der Welt mit Beraterstatus in den Vereinten Nationen. Suffragetten und Kriegsgegnerinnen aus gutbürgerlichen Kreisen hatten sie 1915 in Den Haag aus der Taufe gehoben. Von dort aus sandten sie Friedensbotinnen aus. Ihre Geschichte verpflichtet die IFFF auch zur Positionierung gegen aktuelle Militärinterventionen. So beteiligt sie sich heute zum Beispiel an einem Netzwerk gegen ausländische Militärstützpunkte, die strategischen Eckpfeiler der weltweiten Kriegsführung. Aktivistinnen aus La Paz, wie Tomasia P. C., und ihre lateinamerikanischen Mitstreiterinnen erklärten den internationalen Gästen auf der Konferenz in Santa Cruz ihr Anliegen: Sie wollen dem Hunger ebenso Einhalt gebieten wie der neokolonialen Ausbeutung, die ihn verursacht. Über den Reichtum ihres jeweiligen Landes wollen sie in eigener Regie verfügen dürfen, die neoliberalen Freihandelsabkommen wollen sie lieber heute als morgen aufkündigen.

Frauen aus dem Hochland aber blieben nur kurz auf der Tagung. Das indigene Bolivien der Mehrheit lernt man in Santa Cruz ohnehin kaum kennen, in dieser Stadt der Begünstigten. Die Einsicht stellte sich nach meiner zweimonatigen Reise durch das über eine Million Quadratkilometer weite Land ein. Die Mehrheit der Bewohner Boliviens ist klein und dunkelhäutig, nicht hochgewachsen und weiß, wie die Schönheitsköniginnen von Santa Cruz. Im Hochland sind die Gesichter der Menschen gegerbt von der Sonne, der sie während der täglichen Feldarbeit ausgesetzt sind. Tiefschwarz sind die traditionellen Zöpfe der indigenen Frauen.

Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, angesichts der Hungerlöhne, angesichts kaum noch sichtbarer Entwicklungsmöglichkeiten zieht es ungeduldige und hoffnungsfrohe Männer in großer Zahl, aber auch Frauen, in die weite Ferne. Die Emigration ist ungebrochen hoch. Bolivien bedeutet für die Mehrheit seiner Bewohner noch immer bitterste Armut – und das trotz der immensen natürlichen Reichtümer. Außer Erdgas und -öl birgt der Boden Zink, Blei, Kupfer, Lithium, Wolfram und Salpeter. In der Salzwüste Uyuni sind selbst Uranvorkommen zu finden. Das Land verfügt über enorme Süßwasserreserven – und über einen großen Wissensschatz der Ureinwohner.

Politik für Ausgeschlossene

Der Name Boliviens stammt von dem Freiheitskämpfer Simón Bolívar, der 1825 »Alto-Peru« in die Unabhängigkeit von den spanischen Kolonialherren geführt hat. Seither war das Land über lange Zeit hinweg von Diktatoren beherrscht. Ab 1985 dann trat der Neoliberalismus in Bolivien seinen Siegeszug an. Acht Präsidenten innerhalb von zwanzig Jahren verscherbelten achtlos und ausschließlich im eigenen Interesse die Ressourcen der Gemeinschaft. Zwei Drittel der neun Millionen Bolivianer verfügen heute über weniger als einen Dollar pro Tag. Das Straßennetz ist zu zwei Dritteln unbefestigt. Die Eisenbahn wurde an Chile verkauft. Busse und Lastkraftwagen sind die Haupttransportmittel. Heftige soziale Kämpfe äußern sich in den wiederkehrenden Straßensperren der Protestgruppen.

Der Binnenstaat Bolivien, flächenmäßig fast dreimal so groß wie die Bundesrepublik, verfügt im fruchtbaren, aber von Großgrundbesitz geprägten Osten über Ansätze einer industrialisierten Landwirtschaft. Dort beginnt man, großflächig Soja oder gar die Kultpflanze der Inkas, Mais, für Biotreibstoff zu kultivieren. Anders als im Nachbarland Brasilien geschieht das allerdings nicht mit dem Segen der Regierung.

Bolivien ist ein Paradebeispiel für Fremdbestimmung und Ausbeutung, zu Zeiten des Kolonialismus ebenso wie im neoliberalen Kapitalismus. Seine Menschen und Naturreichtümer wurden jahrhundertelang ausgebeutet. Das ehemals reiche Potosí mit seinem Silberberg, über 4000 Meter hoch in den Anden gelegen, zeugt davon. Der Cerro Rico, der reiche Hügel, lieferte den Kolonialherren so viel Silbererz, daß man sich in Bolivien erzählt, einst hätte damit eine silberne Brücke vom Gipfel des Cerro bis zum Tor des Königspalastes in Spanien errichtet werden können. Im 16. Jahrhundert begann »die Beerdigung der eingeborenen Bevölkerung in den Minen«, wie der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schrieb. Das damalige Geschehen kündete vom Beginn der kapitalistischen Produktionsära und war nach Karl Marx einer der Hauptfaktoren der ursprünglichen Kapitalanhäufung.

Bis heute hat sich an den katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Minenarbeiter und ihrer Familien wenig geändert. Es ist vieles noch so, wie es die Bergarbeiterfrau und Gewerkschafterin Domitila beschrieb, als sie über die lebensgefährliche Arbeit in den Stollen des Berges berichtete. Heute noch fördern die Minenarbeiter dort unter extremen Bedingungen Blei, Zink, Zinn und wertvolle Minerale. Die Lebenserwartung eines Bergarbeiters beträgt dementsprechend nur etwa 35 Jahre. Fast alle sterben an einer »Staublunge«. Das Kauen von Kokablättern hilft, den Arbeitstag im feuchtkalten Stollen ohne Nahrung durchzustehen. Die These vom angeblichen Durchsickern des Reichtums zu den Ärmsten läßt sich hier nicht belegen.

Und doch gibt es neue Hoffnung. Die indigene Bevölkerung ist gut organisiert. Nach über zwei Jahrzehnte währenden Sozialkämpfen hat einer der Ihren das Präsidentenamt errungen: der ehemalige Kokabauer Evo Morales. Ein Mann, der die Sorgen des Volkes und seine bittere Armut früh erfahren hat, ein Organisator, einer, der die Gefängnisse des Landes von innen kennt. 1997 wurde er erstmals Abgeordneter. Seit zwei Jahren leitet er die Geschicke des Landes auch mit Hilfe der indigenen Bevölkerung erfolgreich. Sie war es, die in Cochabamba einem Privatkonzern die bereits privatisierte Wasserversorgung wieder zu entreißen half. Mit Silvia Lazarte, der Präsidentin der verfassunggebenden Versammlung, und der stellvertretenden Parlamentspräsidentin Julia Ramos Sánchez haben die Frauen in Bolivien bedeutende Vertreterinnen.

Beide Politikerinnen stehen für die Regierung von Evo Morales, die mit annähernd 54prozentiger Mehrheit ins Amt gewählt wurde. Seiner »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) liegt, anders als der Name vermuten läßt, kein sozialistisches Programm zugrunde. Die MAS stützt ihre Macht heute auf die Basisorganisationen der Einheimischen. Sie haben dafür gesorgt, daß die Kleinbauern aus den entlegenen Bergdörfern erstmals ihr Wahlrecht wahrgenommen haben. Sie strömen auf beschwerlichen Wegen immer wieder herbei, wenn es gilt, die verfassunggebende Versammlung gegen ihre Gegner zu schützen. Denn die Reform der Konstitution ist im Kern ein indigenes Projekt. Aus ihren Dörfern geht seit zwei Jahren ein neuer Impuls aus. Er führte zur Rücknahme der Privatisierungspolitik, zur verstärkten Kontrolle von Konzernen wie Shell und Enron. Es fließen mehr Steuern aus der Öl- und Gasförderung in staatliche Kassen und ermöglichen – vorerst wenigstens – eine neue Sozialpolitik. Auch die Makroökonomie weist bessere Zahlen auf, das Haushaltsdefizit schrumpft, und die Währungsreserven werden aufgestockt.

An der Spitze dieser Politik steht Evo Morales: Sein Gehalt als Staatschef hat er auf umgerechnet 1500 Euro limitiert, kein Staatsdiener in Bolivien soll mehr verdienen. Ein neues Konzept vom »guten Leben«, das auf Grundsätzen der Indigenen beruht, wird propagiert. Ergebnisse dieser Politik sind auch ein neu geschaffenes Antikorruptionsministerium und ein Gesetz gegen die Verschwendung öffentlicher Gelder.

Die Alphabetisierung des Landes wird mit Hilfe kubanischer Lehrer und Lehrprogramme forciert: 375000 Menschen haben so schon Lesen und Schreiben gelernt. Kubanische Ärzte operieren die Bedürftigen, selbst der Mörder Ernesto »Che« Guevaras wurde, wie man sich erzählt, durch einen kubanischen Arzt an den Augen operiert.

Erste Erfolge spürbar

Obwohl die Macht im Lande noch in den Händen der Opposition liegt, etwa in denen der für zehn Jahre gewählten Präfekten der Provinzen, sind Fortschritte zu spüren: Für jedes schulpflichtige Kind gibt es eine Zuwendung von umgerechnet rund 20 Euro, eine Sozialhilfe ist gesetzlich vorgesehen. Auch dagegen laufen die rechten Präfekten in den Tieflandprovinzen Sturm. Die Konfliktlinie verläuft in Bolivien zwischen Ost und West. Die reichen Tieflandprovinzen im Osten, wo die Erdöl- und Erdgasreserven liegen, versuchen, den indigenen Vormarsch aus dem Andenhochland im Westen zu stoppen. Sie wenden sich mit allen Kräften gegen eine neue Verfassung, die den Wandel festschreiben würde. Die Kampfmethoden erscheinen aus der Ferne betrachtet zum Teil skurril. Ein Beispiel ist der Streit um den Regierungssitz. Von Santa Cruz aus finanziert und medial begleitet, fordert eine oppositionelle Bewegung die Verlagerung des Regierungssitzes von La Paz im Hochland in das Provinznest Sucre. Der Streit wird seit Monaten geführt und artete zum Teil in brutale Gewaltexzesse aus. Sucre ist nominell Hauptstadt und Sitz der obersten Justizverwaltung, La Paz ist Regierungssitz. In Sucre tagte bis Ende vergangenen Jahres die verfassunggebende Versammlung. Auf Grund pogromartiger Ausschreitungen gegen MAS-Abgeordnete war sie schließlich verlegt worden. Die Regierungsgegner hatten zuvor Fragen der Geschäftsordnung zum Vorwand genommen, um den Verfassungskonvent zu blockieren. In der Andenstadt Oruro wurde Mitte Dezember schließlich der Text einer neuen Konstitution verabschiedet, unter dem Schutz von Minenarbeitern und MAS-Aktivisten. Das Ergebnis soll – anders als der europäische »Reformvertrag« – dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. Demokratie und Transparenz herrschen also, entgegen den Unterstellungen der Opposition, vor.

Als die verfassunggebende Versammlung es wenige Wochen zuvor abgelehnt hatte, die Hauptstadtfrage zu behandeln, diente dies den aufgewiegelten Bürgerkindern nach dem Unabhängigkeitstag im August vergangenen Jahres zum Anlaß für ihre Revolte. Sie entzündeten Barrikaden aus Autoreifen im Herzen Sucres. Ihre Kommilitonen verharrten in einem mehr symbolischen Hungerstreik im Stadtzentrum auf Luftmatratzen, während die weniger Privilegierten sich wegen des »Bürgerstreiks« um ihren Lebensunterhalt sorgen mußten. Anstatt die Studenten zur Vernunft zu rufen, schlossen die Universitätsleitungen ihre Lehranstalten, um die Jugendlichen zur Teilnahme an dem Aufruhr zu motivieren. Das private Fernsehen zeigte derweil Stunde um Stunde, Tag für Tag Bilder von bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen in Sucre, obwohl sich anfangs nur ein Grüppchen daran beteiligt hatte. Die privaten Zeitungen schürten Furcht, aber nicht etwa vor den randalierenden Jugendlichen, sondern vor den Bauern, die aus den Bergen in die Stadt gekommen waren, um die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung zu schützen.

Währenddessen unterbreitete die Regierung einen Kompromißvorschlag nach dem anderen. Sucre und seine Provinz Chuquisaca sollten eine Entschädigung für den Verbleib des Regierungssitzes in La Paz erhalten. Aber der Opposition ging es offensichtlich um die Destabilisierung einer auch aus rassistischen Gründen abgelehnten Regierung. Diesem Ziel dient auch die Autonomiebewegung einiger Provinzen. Aber die Regierung bleibt besonnen. Militär und Polizeiapparat verhalten sich ihr gegenüber weitgehend loyal – was in Bolivien nicht immer so war. Nicht zu unterschätzen ist aber der Einfluß der Präfekten wie desjenigen von Cochabamba, einem Zögling der US-amerikanischen Militärausbildungsstätte »School of the Americas«. Mánfred Reyes stellte in der Vergangenheit schon einmal öffentliche Mittel für die Arbeit faschistischer Jugendorganisationen zur Verfügung, die dann während der Krawalle in Sucre zum Einsatz kamen. Die Mittelschichten sind besonders anfällig für die Demagogie der Opposition, die der Regierung Inkompetenz und den »Verrat nationaler Interessen« unterstellt. Viele Wohlhabendere glauben daher, Morales ruiniere die Wirtschaft, arbeite im Dienste Kubas und Venezuelas oder sei ein Drogendealer – alles Vorurteile, die von den Medienkonzernen verbreitet werden. Einzig das Radio ist als Informationsquelle noch halbwegs brauchbar.

Trotz all dieser Widerstände aber verändert sich Lateinamerika. Die Entwicklung in Bolivien wird dabei nicht nur für diesen Kontinent schicksalhaft sein, sondern sie wird international Bedeutung haben. Diese Erkenntnis motiviert den Widerstand gegen Evo Morales. Und sie sollte seine Unterstützer mobilisieren – im Land und international.

* Aus: junge Welt, 9. Februar 2008


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