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Zeitenwende in Lateinamerika

Boliviens Präsident Evo Morales macht Ernst und verstaatlicht die Erdgas- und Erdölreserven des Landes. Berichte und Kommentare

Wie immer man den Vorgang selbst bewertet: Die Verstaatlichung wichtiger Teile des Energiesektors ist ein mutiger Schritt, der dem Zeitgeist des Neoliberalismus völlig zuwiderläuft. Auch wenn sich Spekulationen über die Wirkung des Programms von Präsident Morales heute verbieten, so beweist er doch immerhin, dass die globalen Rezepte von IWF und Weltbank nicht alternativlos sind.
Zunächst dürften aber wilde Spekulationen über den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs der Regierung in Bolivien ins Kraut schießen. Das liegt am Kontext: Das Regierungsdekret zur Nationalisierung wurde am 1. Mai - allein schon dieser Tag ein Symbol - unmittelbar nach der Rückkehr Morales' aus Havanna veröffentlicht. In der Hauptstadt des "Schurkenstaates" hatte der bolivianische Staatschef mit seinen venezolanischen und kubanischen Amtskollegen Hugo Chávez und Fidel Castro eine gemeinsame Handelszone als Gegenpol zum US-dominierten Freihandel gegründet. Zugleich war er dem Bündnis "Bolivarische Alternative für Amerika" (ALBA) beigetreten (siehe hierzu: Eine "Bolivarische Alternative für Amerika").
Im Folgenden dokumentieren wir aktuelle Berichte und zustimmende, aber auch besorgte Kommentare aus der Presse.



"Das Plündern durch die Konzerne ist beendet

Boliviens Präsident Evo Morales ordnet Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölreserven an. Bevölkerung feiert. Weitere Renationalisierungen angekündigt

Von Timo Berger*

Boliviens Präsident Evo Morales hat am Montag mittag (Ortszeit) die »Verstaatlichung der Treibstoffe« seines Landes per Dekret verfügt: »Das Plündern durch die ausländischen Unternehmen ist beendet«, erklärte der sozialistische Staatschef in San Alberto im Süden des Landes.Die in Bolivien operierenden internationalen Mineralölkonzerne müssen mit sofortiger Wirkung ihre Produktion dem Staat übergeben, dieser ist künftig für Handel und Weiterverarbeitung der Rohstoffe zuständig. Den Firmen wurde eine Frist von 180 Tagen eingeräumt, um sich auf die neuen Regeln einzustellen. Ansonsten müssen sie das Land verlassen. Dekret 28701

Morales hat mit seiner Ankündigung alle überrascht. In den vorangegangenen Wochen hatten ihm Gewerkschafter der COB (siehe jW vom 28. April) vorgeworfen, er würde sein Wahlversprechen, die Renationalisierung der Öl- und Gasreserven, nicht einhalten. Nun zeigt sich, daß Morales seit Amtsantritt mit seinem Mitarbeiterstab im Geheimen an den Details der Verstaatlichung gearbeitet hat. Der endgültige Entschluß wurde am 27. April im Kabinett getroffen, wie der Präsident am Montag abend bei einer Ansprache in La Paz bekanntgab. »Wir haben gerade erst angefangen, die Öl- und Gasressourcen zu verstaatlichen, und es gibt noch viel zu tun. Schon bald werden die Minenunternehmen, die Forstwirtschaft und alle anderen nationalen Reichtümer, für die unsere Vorfahren gekämpft haben, an die Reihe kommen«, erklärte Morales vom Balkon des Präsidentenpalastes Und weiter: »Wir haben ein Paket von Dekreten, um den Bolivianern die Erde zurückzugeben.«

Die Nachricht wurde von der bolivianischen Bevölkerung mit spontanen Kundgebungen bis spät in die Nacht zum Dienstag gefeiert. Ursprünglich sollte Morales am 1. Mai an einem Festakt seiner Partei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) in der Innenstadt von La Paz teilnehmen. Statt dessen trat der Präsident in San Alberto in der Provinz Tarija auf einem der größten Gas- und Erölfelder Boliviens mit seiner sensationellen Ankündigung vor die Presse.

Das Dekret 28701 räumt den Mineralölfirmen sechs Monate Zeit ein, um ihre Operationen in Bolivien an die neue Verfahrensweise anzupassen. Der Staat wird künftig Mehrheitsgesellschafter von fünf Mineralölfirmen. Drei Unternehmen, die im Zuge der Privatisierungen der neunziger Jahre aus ehemaligen Staatsunternehmen hervorgegangen sind, sollen durch die Enteignung der Aktien, die sich in Händen von Bolivianern befinden, und den Zwangsaufkauf weiterer Aktien renationalisiert werden. Darüber hinaus wird Bolivien Aktien der internationalen Mineralkonzerne erwerben.

Gleichzeitig mit der Verkündung des Dekretes besetzten Truppen der bolivianischen Streitkräfte 56 Öl- und Gasfelder, um die Versorgung mit Treibstoffen und den Zugang von Mitarbeitern des staatlichen Minerölkonzerns YPFB zu garantieren. Davon betroffen sind Förderanlagen von 20 Firmen, darunter Repsol-YPF (Spa-nien), Petrobras (Brasilien), British Gas und British Petroleum (Großbritannien) und Total (Frankreich).

Lange Auseinandersetzung

Die Verstaatlichung steht am Ende einer mehr als zehnjährigen Auseinandersetzung um die bolivianischen Rohstoffreserven. Gegen die unter der ersten Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada durchgeführter Privatisierung (1993–1997) regte sich bald der Widerstand der Bevölkerung. Im »Gaskrieg« im Jahr 2003 wurden 90 Menschen, die gegen den Export von Gas nach Chile protestierten, von Polizei bzw. Armee ermordet. Im Juli 2004 stimmte die Bevölkerung in einem verbindlichen Referendum für die Wiederverstaatlichung der Öl- und Gasreserven an der Förderstelle und für eine 50prozentige Steuer auf die Gewinne aus dem Treibstoffgeschäft. Diese Bestimmungen flossen vergangenes Jahr in ein Gesetz ein.

Die Bedingungen der von Morales nun verkündeten Renationalisierung sind härter, als es die Mineralölfirmen erwartet haben. Petrobras und Repsol-YPF müssen zumindest für die Übergangszeit auf ihre Förderungen in den beiden größten Öl- und Gaslagerstätten in San Alberto und San Antonio 82prozentige Abgaben bezahlen, die Unternehmen, die kleinere Gasfelder ausbeuten, immerhin noch 50 Prozent.

Damit und mit der ebenfalls beschlossenen staatlichen Kontrolle des Handels und Vertriebs steigen die staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft von bislang 420 Millionen auf schätzungsweise 780 Millionen US-Dollar.

Hintergrund: Der Kampf um das Gas in Bolivien

Unter der Regierung des Sozialisten Evo Morales sind die Erdgasvorkommen zum dritten Mal in der Geschichte Boliviens verstaatlicht worden. Erstmals wurde ein solcher Schritt gegen den US-Konzern Standard Oil im Jahr 1937 unternommen. Die Maßnahme stand damals im Kontext einer nationalistischen Politik, die sich nach dem sogenannten Chaco-Krieg durchgesetzt hatte, in dem Bolivien zuvor einen Teil seines Territoriums an Paraguay verloren hatte. Zum zweiten Mal wurde eine Verstaatlichung der fossilen Energieträger im Jahr 1969 beschlossen. Betroffen war damals mit der Gulf Oil Company ebenfalls ein US-Konzern.

Unter der Militärdiktatur von Hugo Banzer (1971–1978) wurde die Privatisierung der Erdgas- und Erdölvorkommen eingeleitet. Diese Entwicklung gipfelte in der Vollprivatisierung der Industrie unter dem neoliberalen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada im Jahr 1996. Seither dauerte die Auseinandersetzung um die Kontrolle der Ressourcen an. Die Wiederverstaatlichung von Gas und Öl war das Hauptversprechen von Evo Morales. Damit gewann er die Präsidentschaftswahl am 18. Dezember vergangenen Jahres.

Nach jüngsten Erkenntnissen verfügt Bolivien über rund 50 Billionen Kubikfuß Erdgas. Die Erdölvorkommen belaufen sich auf 465 Millionen Barrel (ein Barrel entspricht 158,98 Liter). Im vergangenen Jahr wurde Erdgas im Wert von umgerechnet 984 Millionen US-Dollar exportiert. Der Marktwert des ausgeführten Rohöls betrug umgerechnet rund 300 Millionen US-Dollar. Seit der »Öffnung« der Öl- und Gasindustrie sind zahlreiche internationale Konzerne in das Geschäft eingestiegen. Zu ihnen gehören neben Petrobras, Repsol-YPF und Total die Unternehmen British Gas, Dong Wong, ExxonMobile und Royal Dutch Shell.

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2006


Evo Morales hält sich an sein Wahlversprechen

Boliviens Präsident verstaatlicht die Öl- und Gasressourcen

Von Tommy Ramm, Bogotá**

Die Erwartungen an den ersten indigenen Präsidenten Boliviens sind immens. Mit der Verstaatlichung der Öl- und Gasressourcen ist Evo Morales Forderungen seiner Basis nachgekommen. Bei den Multis sorgt die Entscheidung für Verdruss.

Die Botschaft ist eindeutig: »Wir haben mit dem Energiesektor begonnen, morgen sind der Bergbau, die Forstwirtschaft und die Bodenschätze an der Reihe.« Boliviens Präsident Evo Morales beschrieb in einer Rede, die er vom Balkon des Regierungssitzes aus an zahlreiche Anhänger auf dem Murillo- Platz hielt, wohin in Bolivien die Reise geht. »Die Ausplünderung ist vorbei«, gab der frühere Gewerkschaftschef als Marschroute aus. Zuvor hatte er Öl- und Gasvorkommen per Dekret unter die Kontrolle des Staatskonzerns YPFB gestellt und die Armee zu den Förderfeldern beordert. Ausländische Energiekonzerne hätten 180 Tage Zeit, neue Verträge auszuhandeln, kündigte der Präsident an.

In La Paz feierten zehntausende Bolivianer den Nationalisierungsplan, den Präsident Evo Morales am 1. Mai in Carapari im Süden Boliviens verkündete. Gewerkschafter bejubelten die Erfüllung eines Wahlversprechens der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS). Von Unternehmerseite kam Kritik. Auch im Ausland wurde Skepsis laut. Der brasilianische Energieminister Silas Rondeau bezeichnete die Verstaatlichung als »unfreundlichen Akt«. Ein Sprecher der spanischen Regierung sagte, man hoffe auf einen echten Verhandlungs- und Dialogprozess. Es dürfe kein negatives Signal an ausländische Investoren gesandt werden.

Der Zeitpunkt des Schrittes von Morales kommt überraschend. Erst vor kurzem hatte Morales gegenüber der Presse in Bezug auf die Verstaatlichungspläne gesagt: »Ich weiß, wir stecken fest.« Das scheint ein Ablenkungsmanöver gewesen zu sein. Ohnehin hatte Präsidialamtschef Juan Ramón Quintana zeitgleich am Ziel der Nationalisierung der Rohstoffförderung festgehalten. »Wir bereiten diesen Krieg vor, und der beinhaltet die Nationalisierung der Ressourcen und eine neue Landpolitik«, erklärte er. Ohne genauere Details warnte er davor, dass die Ölmultis dabei seien, eine Gegenattacke vorzubereiten, gegen die man gewappnet sein müsse.

Die Verstaatlichung ist zweifellos der Höhepunkt der bisherigen drei Monate Regierungszeit. »Für 20 Jahre schlechter und unpatriotischer Regierungsarbeit lässt sich in 90 Tagen kein Heilmittel finden«, resümierte der Ende Januar angetretene Präsident Evo Morales selbstkritisch seine ersten drei Amtsmonate. Erstmals in der Geschichte des Landes regiert in Person Morales’ ein Präsident indigener Abstammung, der sich zum Ziel gesetzt hat, das Land mit einer »demokratischen und kulturellen Revolution« neu zu gründen und die natürlichen Ressourcen des Landes wieder zu nationalisieren.

Schon vor den Verstaatlichungsplänen war es zu ersten Konflikten gekommen. Die bolivianische Regierung forderte von dem französischen Ölmulti Total Erklärungen über Angaben der Firma, wonach diese bolivianisches Erdgas als eigene Ressourcen an der Börse angegeben hatte. Einen ähnlichen Konflikt lieferte sich die Regierung im März mit dem spanischen Multi Repsol. Repsol wurde bezichtigt, an der bolivianischen Steuerbehörde vorbei Erdöl aus dem Land zu schmuggeln.

Auch mit einigen lateinamerikanischen Staaten hat sich Morales angelegt. Nachdem er Peru und Kolumbien wegen der Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens mit den USA des Verrats bezichtigt hatte, kühlten sich die Beziehungen zu diesen Ländern ab. Wie Venezuelas Präsident Hugo Chávez hält Morales die Andengemeinschaft für faktisch gestorben: »Auch ich habe den Eindruck, dass die Andengemeinschaft eigentlich tot ist.« Einige Regierungen in der Region hätten sich zum Werkzeug der Desintegration und der Rekolonialisierung gemacht. Bolivien befürchtet etwa, künftig auf 20 Prozent seiner Sojaproduktion sitzen zu bleiben, die nach Kolumbien exportiert wird. Peru und Kolumbien forderten von der bolivianischen Regierung eine Entschuldigung, die Morales jedoch ablehnt.

Auch mit der brasilianischen Linksregierung unter Lula da Silva gibt es Ärger. Der bolivianische Energieminister Andres Soliz beschuldigte Brasilien Mitte April, sein Land wie eine »halbe Kolonie« zu behandeln. Brasilien befürchtet nun, dass seine Firmen im Nachbarland benachteiligt werden. Die Verstaatlichung dürfte ein übriges tun.

Das strikte Verteidigen nationaler Interessen mag Morales zwar diplomatische Probleme einbringen, doch die Bolivianer stehen laut Umfragen zu 80 Prozent hinter ihm. Am 2. Juli ist die Bevölkerung aufgerufen, die 255 Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung zu wählen, mit der Morales die »Neugründung« Boliviens vorantreiben will. Rund 60 Prozent der Bolivianer sind indigener Abstammung. Zum ersten Mal erhalten sie mit den Beratungen über die Verfassung die Möglichkeit zur umfassenden politischen Beteiligung.

** Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2006


Kommentare aus der Tagespresse

Bis auf das Lob für Morales, er habe wenigstens sein Wahlversprechen eingehalten, erntet der Schritt im Kommentar der "Neuen Zürcher Zeitung" überwiegend Kritik:

Eines kann man Präsident Evo Morales nicht vorwerfen: dass er seine Wahlversprechen nicht hält. Die am "Tag der Arbeit" verordnete Verstaatlichung des Erdgas- und Erdöl-Sektors war bereits vor der Wahl angekündigt worden. (...)
Boliviens Präsident springt damit auf einen seit einiger Zeit fahrenden Zug auf, der vor allem über den Energiesektor rollt. Venezuela und Russland haben hier mit einer Renationalisierung der Erdölwirtschaft bereits den Weg vorgespurt. (...) Für viele Länder haben sich aber ihre Rohstoffvorkommen nicht als Segen erwiesen. Ökonomische Probleme ergeben sich beispielsweise aus einer tendenziellen Aufwertung der heimischen Währung, die die übrige Exportwirtschaft belastet, und aus der Abhängigkeit der Volkswirtschaft von einem einzelnen Sektor.
Schwerer noch lastet der politische "Fluch der Ressourcen": Wegen der üppig sprudelnden Einnahmen werden üblicherweise die (falschen) Staatsausgaben ausgeweitet und Reformen zurückgestellt. Zudem steigen die Ansprüche der verschiedensten Gruppen. Diese Probleme verschärfen sich, wenn der Staat seine Hand auf die Ressourcen legt."
Neue Zürcher Zeitung, 3. Mai 2006


Nach dem "Handelsblatt" (Düsseldorf) treibt Morales ein riskantes Spiel: Ein wichtiger Teil der Exporte Boliviens könnten wegbrechen:

Morales treibt ein riskantes Spiel. Mit der publikumswirksam in Szene gesetzten Verstaatlichung und militärischen Besetzung von Gasfeldern und Raffinerien stellt er zwar die zahlreichen Indio-Bewegungen des Landes zufrieden. Sie hatten seinen Amtsvorgängern mit ihren radikalen Forderungen und Massenprotesten zuletzt das Regieren unmöglich gemacht. Andererseits läuft der Indio-Präsident Gefahr, dass sich die internationalen Unternehmen wie die spanische Repsol YPF oder die brasilianische Petrobras ganz aus Bolivien zurückziehen und damit die Gasförderung überhaupt in Frage stellen. Dabei hat der bolivianische Staatskonzern YPFB weder das nötige Kapital noch das erforderliche Know-how, um die großen Gasreserven des Landes selbst zu erschließen und abzubauen oder gar zu kommerzialisieren. Die Gasexporte bilden etwa die Hälfte der bolivianischen Exporte, das Land wäre ohne diese Einnahmequelle hoffnungslos verloren.
Handeslblatt, 3. Mai 2006


Morales habe mit seiner Verstaatlichung nicht nur einen "Akt der Demokratie" vollzogen, sondern könnte auxch längerfristig die Oberhand behalten, mutmaßt dagegen die Berliner "tageszeitung" (taz):

Kaum ein Land auf der Welt hat eine solch brutale Geschichte der Ausbeutung hinter sich wie Bolivien - von den geplünderten Reichtümern des Silberberges Potosi bis zu den ungerechten Mechanismen des Erdgasexports. Es ist ein Akt der Demokratie, wenn Präsident Morales die Nationalisierung der Erdgasvorkommen verkündete und den internationalen Energiekonzernen mit strengen Auflagen das Geschäft vermiest. Die Gelegenheit dafür ist so günstig wie nie zuvor. Die Energiepreise sind hoch, der Bedarf ist riesig und die Legitimität seiner Regierung anerkannt. (...) In Lateinamerika haben sich in den letzten Jahren neue soziale und politische Akteure herausgebildet, die die Freiheit, die insbesondere durch das plötzliche Desinteresse der USA an der Region entstanden war, bestens zu nutzen verstanden.
Und die Episode "Das Imperium schlägt zurück" ist diesmal schwer in Szene zu setzen. Denn die Macht des Internationalen Währungsfonds, bislang das zuverlässigste Instrument Washingtons, Abtrünnige in die Schranken zu verweisen, verblasst gegenüber der neuen Macht der Energieressourcen. Diese in den Händen von Bevölkerungsmehrheiten - eine wirklich schöne Vorstellung, die ganz neue Entwicklungsperspektiven eröffnet. Aber auch eine große Verantwortung für die beteiligten Regierungen.
taz, 3. Mai 2006


Trotz einem gewissen Verständnis für die Aktion von Morales kritisiert die "Süddeutsche Zeitung" den Schritt als verkehrtes Mittel. Als kleines Land müsse sich Bolivien noch mehr an die "Gesetze des Welthandels" (wohl ein Synonym für Neoliberalismus) halten als der größere Bruder Venezuela.

Tatsächlich sind rohstoffreiche Nationen wie Bolivien und Peru Symbole der Ausbeutung, in denen fremde Konzerne ein Vermögen machen, ohne in die Infrastruktur zu investieren. Eine Minderheit der Bevölkerung verschanzt sich im Luxus, die Mehrheit besitzt kaum zwei Dollar am Tag. (...)
(...) An Washingtons Arroganz und der Abneigung gegenüber der ungeliebten Bush-Regierung scheitert die gesamtamerikanische Wirtschaftszone. Doch das kubanisch-venezolanisch-bolivianische Gegenmodell ist wohl kaum die Lösung für die Sorgen des Subkontinents. Chavez kann es sich vorerst leisten, mit Petrodollars zu prassen. Sein wichtigster Abnehmer sind trotz aller Drohgebärden die USA.
Venezuela wird jedoch immer abhängiger von Gas und Öl, statt auf die Zukunft zu setzen, und die Armut geht auch keineswegs zurück. Ein kleines Land wie Bolivien kann sich Protektionismus noch weniger erlauben, es braucht internationale Verbindungen und weniger Ideologie als Erziehung und Forschung. Immer stärker wird der Kontrast zum Nachbarn Chile, das sich trotz nominell sozialistischer Regierung an die Gesetze des Welthandels hält. Das beschert außer stabilen Wachstumsraten zwar auch soziale Schwierigkeiten, aber die neue Präsidentin hat das Problem erkannt und sucht nach vernünftigen Auswegen.
Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2006


"FTD Financial Times Deutschland" vermutet, Morales habe mit seinem Schritt "nationalistische Tendenzen" in Lateinamerika verstärkt. Unter Berufung auf anonyme "Experten" wird schließlich auf die überwiegend schädlichen Folgen der Verstaatlichung hingewiesen.

Mit seinem Erlass zur Verstaatlichung der Gasindustrie hat Boliviens Präsident nationalistische Tendenzen in Südamerika verstärkt. Dank hoher Weltmarktpreise für Erdöl, Kupfer und Erdgas bemühen sich immer mehr Regierungen, wichtige Rohstoffbranchen unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch höhere Abgaben und Steuern wollen sie die Staatseinnahmen erhöhen und beim Volk punkten. Mit dem Zugriff auf wichtige Rohstoffbranchen kommen die Regierungen der linksnationalen Gesinnung weiter Teile der Bevölkerung in Lateinamerika entgegen. (...)
(...) Im Unterschied zu früheren Verstaatlichungsplänen in Lateinamerika verfolgt Morales nicht die Absicht, die vorwiegend ausländischen Investoren vollkommen zu enteignen und aus dem Land zu jagen. Vielmehr zielt der Präsident darauf, den Staatshaushalt mit den derzeit sprudelnden Einnahmen aus dem Erdgassektor zu füllen.
Experten glauben, dass Bolivien sich mit der Verstaatlichung der Gasbranche selbst ein Bein stellt. Schon heute ist es das bei weitem ärmste Land in Südamerika, seine Einnahmen hängen stark von der Gasbranche ab. Die zu der Ausbeutung der Reserven notwendigen Milliardeninvestitionen werden nach Morales' Entscheidung allerdings kaum ins Land fließen. Dass der Staat die Summe allein aufbringen kann, ist zweifelhaft.
FTD, 3. Mai 2006


In das gleiche Horn stößt der britische "Guardian":

Sein (Morales') Schritt ist ein weiteres Beispiel für 'Öl-Nationalismus', wie er von (Venezuelas Präsident Hugo) Chávez in Caracas und (Russlands Präsident Wladimir) Putin in Moskau praktiziert wird. (...)
Bolivien als Binnenstaat und obendrein extrem armes Land muss es vermeiden, seine Exporte zu gefährden, insbesondere über Brasilien, dessen Staatsunternehmen Petrobras der größte einzelne Investor im bolivianischen Energiemarkt ist. Brasiliens Präsident Lula da Silva - ein eher marktfreundlicher Linker - ist nicht glücklich mit Morales.
The Guardian, 3. Mai 2006


Und das konservative Blatt "ABC" (Madrid) nimmt nun gar keine Rücksicht mehr auf journalistischen Anstand und ergeht sich in Beschimpfungen auf den "linksextremen Nationalisten" Morales und dessen ideologische Verblendung:

Noch vor seinem Amtsantritt hatte der bolivianische Präsident Morales den ausländischen Unternehmern versprochen, dass sie von ihm nicht zu befürchten hätten. Nun legte der frühere Anführer der Coca-Bauern seine Maske ab. Mit der Verstaatlichung der Mineralölwirtschaft zeigte er, wer er wirklich ist: ein linksextremer Nationalist und ein schlimmes Vorzeichen für Fortschritt und Freiheit in Lateinamerika.
Seine Rezepte sind genauso abgestanden wie die der alten Militärdiktaturen. Es ist kein Zufall, dass Morales seine Entscheidung einen Tag nach einem Gipfel mit den Staatschefs von Kuba und Venezuela verkündete. Spanien sollte nun in Brüssel die Initiative ergreifen und dafür sorgen, dass die EU ein Zeichen setzt, dass es eine Verständigung mit Bolivien nur geben kann, wenn Demokratie und Legalität gewahrt bleiben.
ABC, 3. Mai 2006


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