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Viel Lärm um nichts Neues:

Boliviens Nationalisierung zwischen Pragmatismus und Populismus

Von Britta Horstmann*

Die Internetseite des staatlichen Öl- und Gasbetriebes YPFB in Bolivien bestätigt, was anscheinend nur wenige bemerkt haben: die Nationalisierung der bolivianischen Öl- und Gasreserven ist schon fast ein Jahr alt. Denn mit seinem Dekret über die Nationalisierung vom 1. Mai 2006, setzt Boliviens Präsident Evo Morales eigentlich nur das um, was bereits unter der vorherigen Regierung von Carlos Mesa im Mai 2005 Gesetz wurde.

Das Gesetz vom 17. Mai 2005 erklärt die Öl- und Gasreserven in Bolivien ab dem Bohrloch zu Staatseigentum, gründete das bolivianische Staatsunternehmen Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) „wieder neu“ (es hat eigentlich nie aufgehört zu existieren) und beauftragt dieses mit der Kontrolle und Umsetzung des neuen Gesetzes. Dies umfasst auch die Verwaltung der Aktien der Bolivianer aus den kapitalisierten Staatsbetrieben Ende der 90er Jahre (s. Infokasten). Des weiteren erhöhte das Gesetz mit der Einführung einer Steuer von 32% (Impuesto Directo a los Hydrocarburos, IDH) die Abgaben für die ansässigen Erdölgesellschaften auf insgesamt 50% und forderte diese auf, innerhalb von 180 Tagen, neue Verträge mit dem Staat auszuhandeln. Dass dies bisher nicht geschehen ist, stellt auch das neue Dekret vom 1. Mai dieses Jahres fest und gibt den internationalen Unternehmen nochmals 180 Tage Zeit, um neue Verträge zu verhandeln, ansonsten müssen sie das Land verlassen.

Bis zu dem Zeitpunkt konkretisiert das neue Dekret das geltende Öl- und Gasgesetz von 2005 im Wesentlichen nur in zwei Punkten. Zum einen werden die Lizenzgebühren und die Steuerlast für die zwei größten Produktionsfelder San Alberto und San Antonio auf die geradezu symbolische Zahl von 82% angehoben. Diese Zahl setzt sich aus den 50% Abgaben des geltenden Gesetzes zusammen sowie aus einer zusätzlichen Abgabe von 32% für YPFB. Damit gehen 82% des Kuchens an den bolivianischen Staat und nur 18% an das Unternehmen, genau anders herum, wie vor der Gesetzesänderung von 2005. Zum anderen sieht das neue Dekret vor, dass YPFB von nun an das Fördervolumen und die Preise lenken wird. Sowohl aber das Dekret vom Mai 2006 als auch das Gesetz vom Mai 2005 stützen sich auf Artikel 139 der bolivianischen Verfassung, der ohnehin sämtliche Kohlenwasserstoffvorkommen unter den Besitz und die Kontrolle des Staates stellt. Auch setzen beide Gesetzesbeschlüsse eigentlich nur das um, was das bolivianische Volk in einem Referendum vom 18. Juli 2004 längst beschlossen hatte, nämlich die Nationalisierung. Was dieser Begriff aber nun eigentlich bedeutet, auch in seiner praktischen Umsetzung, bleibt genauso vage wie das neue Dekret.

Warum also schlägt die Verkündigung über die „Nationalisierung“ seitens Evo Morales weltweit so hohe Wogen? Wer will wen blenden, und wer lässt sich von wem blenden? Vielleicht waren es die ideologiebehafteten Worte Evo Morales und die Bilder vom Militär, das am 1. Mai die Förderfelder besetzt hatte oder die Verbindungen zu Hugo Chavez und Fidel Castro, die für den internationalen Aufschrei gesorgt haben. Sicher ist, dass das neue Dekret mit der Nummer 28701 zum bestehenden Gesetz zunächst einmal nicht viel ändert. Man könnte meinen, dass der Staatsbetrieb YPFB dies auch so zu sehen scheint, da er das besagte neue Dekret bis heute nicht auf seine Internetseite gestellt hat.



Infokasten:

Boliviens Kohlenwasserstoffe – einige Fakten

  • Mit der Einführung einer zusätzlichen Steuer auf die Produktion (IDH) von 32% erhielt der bolivianische Staat im Jahr 2005 Mehreinnahmen von ca. 188 Millionen Euro, die vor der Gesetzesänderung an die Unternehmen flossen. Dieser Betrag entspricht ungefähr 7% der laufenden Gesamteinnahmen (Unidad de Programacion Fiscal). Für das erste Quartal 2006 erwartet das Finanzministerium Einnahmen von rund 167 Millionen Euro aus dieser Steuer. Die Umverteilung der Einnahmen und deren Einsatz zur Armutsbekämpfung ist neben der Kontrolle über die Ressourcen eines der erklärten Hauptziele der Nationalisierung.
  • Ende der 90er Jahre gingen im Rahmen der Kapitalisierung der größten Staatsbetriebe 50% des Aktienkapitals in den Besitz der jeweiligen Investoren über, u.a. das der Erdölgesellschaften Transredes, Chaco und Andina. Die übrigen Aktien, abzüglich eines kleinen Anteils für die Angestellten, sind in einem Fond zusammengefasst, der seitdem kollektives Eigentum der Bolivianer ist. Unter anderem aus diesem Fonds wird das Rentensystems Bonosol finanziert. Die Aktien wurden von den spanischen Unternehmen Futuro de Bolivia und Previsión BBVA verwaltet und müssen im Rahmen der Nationalisierung nun an YPFB übertragen werden (Decreto Supremo 28711, 15.05.2006).
  • Bolivien besitzt neben Argentinien die zweitgrößten nachgewiesenen Erdgasreserven in Südamerika (Zeitraum 1980-2002, OECD/ IEA, 2003) und ist ein wichtiger Exporteur in der Region. Es stehen Verhandlungen mit Brasilien und Argentinien über die Gaspreise und Exportmenge an. Bolivien verkauft zur Zeit Gas an Brasilien und Argentinien zu einem Preis von 3,24 bzw. 3,18 US-Dollar pro Einheit von einer Million BTU (British Thermal Unit).
  • Die derzeitige Regierung Boliviens prüft die Möglichkeit, auch mit Chile in Verhandlungen über den Verkauf von Gas zu treten. Die Ankündigung, Gas über Chile exportieren zu wollen, war 2003 u.a. Auslöser für die Oktober Unruhen („guerra del gas/ Gaskrieg“), die letztendlich zum Sturz von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada führten.
  • Boliviens Kohlenwasserstoffsektor trug 2005 28.2% zu den Gesamteinnahmen im öffentlichen Haushalt und 6,8% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Der Anteil an den nationalen Exporten Betrug 2005 48,8%, 2001 lag dieser bei 24,8% (Jimenéz, 2006).
  • Während der Anteil des Kohlenwasserstoffsektors an den ausländischen Direktinvestitionen im Jahr 2001 noch um 18,7% wuchs, sank die Wachstumsrate in den Folgejahren ab: 2002 auf 2,2%, 2003 auf –46%, 2004 auf -51,9% und 2005 auf -12,5%. Der Anteil an den gesamten ausländischen Direktinvestitionen betrug 2005 geschätzte 26%, halb so viel wie 2001. (Jimenéz, 2006).


* Dieser Beitrag, den uns die Autorin zusandte, erschien in "Schlüssel Info Bolivien 2006/05"



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Bei unserer Arbeit ist der Respekt gegenüber der kulturellen Identität zentral, unabhängig von ethnischer oder sozialer Herkunft und politischer oder religiöser Ansichten. Wir geben Hilfe zur Selbsthilfe und unterstützen von der Kommune selbstbestimmt gewählte, integrative Anliegen. Wir arbeiten in den Gebieten:

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