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Erfolge ignoriert

Bolivien: Rechte Opposition attackiert zum Unabhängigkeitstag Morales-Regierung

Von Benjamin Beutler *

Seit Tagen laufen in Bolivien die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum Tag der Unabhängigkeit von der spanischen Krone. Am Sonntag strömten im Regierungssitz La Paz und anderen Städten die Menschen auf Straßen und Plätze, Schüler paradierten in Uniform zu Militärmärschen über die Hauptstraßen. Am 6. August 1825 riefen die Sieger eines zermürbenden Unabhängigkeitskampfes in der Kolonialstadt Sucre die Befreiung vom Mutterland im fernen Europa aus. Hoch in den Anden entstand ein neuer Nationalstaat; unter der Führung einer kleinen europäisch-stämmigen Bürgerschaft in den Städten blieb die indigene Mehrheit auf dem Land aber weiterhin geknechtet. Ihr Kampf gegen die Truppen der Krone blieb ohne Früchte. Die neuen Herren benannten das Land mit der größten Silbermine der Welt nach dem Befreiungshelden Simón Bolívar. Seinen Traum von einem geeinten Kontinent hatte er nicht in die Tat umsetzen können.

Einen »Indio« an der Macht zu sehen, das ist für die weiße Oberschicht noch immer unerträglich. Vor der für heute geplanten Rede an die Nation von Präsident Evo Morales – seit der spanischen Invasion im 16. Jahrhundert der erste Indigene an der Spitze des Staates – verbreitet Boliviens Opposition miese Stimmung. »In den Reden des Präsidenten wird uns immer ein Wunderland präsentiert«, stänkert Yanine Añez von der Latifundisten-Partei »Nationaler Zusammenhalt« (CN). Von der Morales-Ansprache in der Bergarbeiterstadt Oruro, in der vor allem Aymara und Quechua aus dem Hochland leben, hält auch Jhony Torrez, Chef des »Movimiento Nacionalista Revolucionario« (MNR) wenig. »Ich erwarte wenig von ihm, er zeichnet ein Land, das es nicht gibt, ein Land, in das ich gerne gehen würde, das ich aber nicht finde, weil es nicht da ist«, so der Politiker, dessen Klientelpartei sich Ende 2003 nach der Flucht des einstigen Vorsitzenden, Expräsident Gonzalo »Goni« Sánchez de Lozada, in Luft aufgelöst hat, in vielen Medien aber weiter als »politische Kraft« hochgejubelt wird.

Mangels Gegenprogramm stellt die rechtskonservative Opposition auf Realitätsverweigerung. Seit der Wahl des bunten Sammelbeckens der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) Ende 2005 bekommen die untereinander zerstrittenen Altparteien bei Parlaments- und Kommunalwahlen keinen Fuß auf den Boden. Das Ergebnis ist blinde Fundamentalopposition. »Ich bitte den Präsidenten, daß er mit seinen Kampagnen aufhört, wir Bolivianer wollen keine Politik, wir wollen Führung, wir wollen Wirklichkeit«, zeichnet CN-Politikerin Añez ein Szenario von Wählertäuschung und Planlosigkeit.

Schenkt man Statistiken aus dem Regierungspalast Glauben, ist Boli­vien auf einem guten Weg. Zum wiederholtem Male kann die schwächste Volkswirtschaft des Kontinents einen Handelsbilanzüberschuß vorweisen. Auch 2012 wuchsen bisher die Exporte mehr als die Importe, ein Plus von 1,3 Milliarden US-Dollar im Vergleich zum selben Zeitraum 2011 konnte erzielt werden – überlebenswichtig für die wirtschaftliche Gesundheit eines Entwicklungslandes. Erreicht wurde der Überschuß trotz gesunkener Weltmarktpreise für metallische Rohstoffe durch Gasexporte nach Brasilien und Argentinien, eine stetig wachsende Textilproduktion mit Venezuela als Abnehmer und den Soja-Boom. Nach sieben Jahren MAS-Regierung haben über 600000 Bolivianer auf dem Land die extreme Armut hinter sich gelassen. Es gibt knapp eine halbe Million weniger Fälle leichter Armut, was an Sozialprogrammen und besseren Verdienstmöglichkeiten vor allem auf dem Land liegt. Auch die Bodenreform kommt voran. Vorgängerregierungen hatten seit 1996 die Eigentumsverhältnisse von lediglich neun der 106 Millionen Hektar Produktivflächen geregelt. Diese waren in den Militärdiktaturen der 1970ger Jahre an eine Handvoll von Großgrundbesitzern im Tiefland verschenkt worden. Seit 2006 wurden nur bereits 55 Millionen Hektar neu verteilt, die jetzige Verfassung erlaubt maximal 5000 Hektar Neuerwerb von Land. »Dieser Prozeß ist ein Weg ohne Rückkehr«, so Morales vergangene Woche. Für die »am meisten vernachlässigten Sektoren«, so das Versprechen des Linkspolitikers, der aus einer armen Bauernfamilie kommt, werde er »diesen revolutionären Prozeß niemals verraten«.

* Aus: junge Welt, Montag, 6. August 2012


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