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Verschwundene Gasreserven

Bolivien hat offenbar weniger Bodenschätze, als bislang angenommen

Von Benjamin Beutler *

Weitaus weniger Gas, als bisher angenommen, schlummert im bolivianischen Boden. Carlos Villegas, der Interimspräsident des staatlichen Energiekonzerns YPFB, mußte in der vergangenen Woche dem Parlament den gesetzlich vorgeschriebenen Jahresbericht zu den Energievorkommen Boliviens vorlegen. »Die Wahrheit ist, daß wir 12,8 Billionen Kubikfuß (TFC) an Vorkommen haben«, so Villegas, das meiste davon in den Departamentos Santa Cruz und Tarija. Bislang war man in dem Andenland von 26,7 bis 48,7 TFC ausgegangen. Das im Dezember 2009 von YPFB mit der Zertifizierung der Gasvorkommen beauftragte US-Unternehmen Ryder Scott Company (RSC) geht sogar von noch weniger aus. Nur 9,7 Billionen Kubikfuß seien garantiert. Man müsse »ehrlich zur Bevölkerung sein«, unterstrich Villegas deshalb.

Die neue Schätzung bedeutet einen Schlag ins Gesicht der Regierung von Evo Morales. Gas und Erdöl sind noch vor dem Bergbau Boliviens wichtigster Exportsektor, mit dem allein von Januar bis August 2010 1,8 Milliarden US-Dollar eingenommen wurden, 31 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Die Opposition wittert deshalb nun Morgenluft. Das ehrgeizige Industrialisierungsprojekt der Regierung, die neben ihren Gaslieferungen an Argentinien und Brasilien die fossilen Brennstoffe für den Aufbau einer eigenen Industrie einsetzen will, sei damit vom Tisch. Bei einem aktuellen Exportvolumen von 7,9 TFC und einem Binnenverbrauch von 1,8 TFC sei das Gas »in zwölf Jahren aufgebraucht«, behauptet Álvaro Ríos, einer der vielen Experten für fossile Brennstoffe in Bolivien. Gabriel Dabdoub, Präsident der Privatunternehmervereinigung, in der Oppositionshochburg Santa Cruz, wirft der linken Regierung »einen fehlenden Wirtschaftsplan« und »mangelnde Rechtssicherheit« vor.

Hat sich Boliviens Gas in Luft aufgelöst? Die Ergebnisse der im Ausland für viel Geld angeheuerten Consulting-Firmen scheinen vom politischen Klima im Land abzuhängen. Als es in den 90er Jahren unter der ersten Regierung des Neoliberalen »Goni« Sánchez de Lozada darum ging, der bolivianischen Öffentlichkeit die Privatisierung des Energiesektors schmackhaft zu machen, lieferten die Experten des Unternehmens »De Golyer & Mac­Naughton« prompt passende Zahlen. Mit 54,9 TFC sitze die seit Kolonialzeiten zum Rohstofflieferanten degradierte Nation auf einem Schatz, der so groß sei, daß er ohne Bedenken exportiert werden könne. Die »zweitgrößte Lagerstätte von Erdgas nach Venezuela« reiche für Binnenmarkt, Industrialisierung und Export, so die Behauptung der Texaner. Als 2006 die im Januar an die Macht gekommene Regierung von Evo Morales die Bodenschätze nationalisierte und so eine Neuverhandlung der Förderlizenzen für die internationalen Multis unausweichlich wurde, verringerten die Zertifizierungsfirmen die Gasreserven wie von Geisterhand auf 24,6 TCF. Daß nun, vier Jahre später, nur noch 9,7 Billionen Kubikfuß veranschlagt werden, legt den Verdacht nahe, daß die Consultants mit den Multis gemeinsame Sache machen. Unklar bleibt, über wie viel Gas Bolivien tatsächlich verfügt.

* Aus: junge Welt, 12. November 2010


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