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Traum eigener Fabriken

Bolivien eröffnet seine erste Erdgasraffinerie. Linksregierung will die ungesunde Weltmarktorientierung endlich hinter sich lassen

Von Benjamin Beutler *

Unter der gleißenden Tieflandsonne der Provinz Santa Cruz brachte Evo Morales die Hoffnungen der zwölf Millionen Einwohner Boliviens auf den Punkt: »Nach 180 Jahren beginnt die Industrialisierung«, verkündete der sozialistische Präsident in der vergangenen Woche vor Hunderten Zuschauern in Cabezas, einem kleinen Landkreis im bolivianischen Tiefland mit knapp 25000 Einwohnern. Morales feierte die Fertigstellung der esten industriellen Gasraffinerie im Andenland überhaupt.

Große Hoffnungen ruhen auf der »Raffinerie von Río Grande«. Zwischen Anden und Amazonas schlummern Südamerikas zweitgrößte Erdgasvorkommen. Bisher wurden diese jedoch unverarbeitet in die Nachbarländer exportiert. Bolivien subventionierte so den wirtschaftlichen Erfolg von Argentinien und Brasilien mit billiger Energie. Treibstoff und Flüssiggas. Um die eigene Wirtschaft am Laufen zu halten, mußte teuer reimportiert werden. Damit soll nun Schluß sein: Die an Bodenschätzen reiche, aber ansonsten bitterarme Volkswirtschaft will seine Energie ab jetzt selber herstellen.

Erstmals autark

5,6 Millionen Kubikmeter Gas täglich kann die Anlage verarbeiten. »Damit hat die Subventionierung von Flüssiggas ein Ende«, freut sich Carlos Villegas, Chef der staatlichen Energiefirma YPFB. Ganz Bolivien kocht mit Gas, Autos werden auf billigen, umweltfreundlichen Flüssiggasantrieb umgerüstet. YPFB kündigte diese Woche den Export von 5500 Tonnen Überschüssen nach Paraguay an, erstmals kann Boliviens Binnenmarkt aus eigener Kraft versorgt werden.

Tief sitzt das Trauma vom »saqueo« in Bolivien. Die Plünderung von Silber, Gold, Zinn, Kautschuk und Tropenholz durch eine kleine Elite soll im 21. Jahrhundert sein Ende finden. »Doch bisher fehlte es an Politikern, die sich ihrem Land verpflichtet fühlten, oder es gab Sabotage und Vorgaben vom Ausland«, sagt Präsident Morales. »So viele Menschen haben ihr Leben gelassen, weil sie an Bolivien und die Industrialisierung glaubten.« Mit diesen Worten gedachte der Sozialist, dem das Verfassungsgericht für seine dritte Kandidatur 2014 gerade grünes Licht gegeben hat, auch der Opfer vom sogenannten Gaskrieg. 2003 hatten sich Männer und Frauen aus El Alto, der Millionenvorstadt der Metropole La Paz, gegen Pläne des damaligen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada gestellt. In den 1990ern entdeckte Gasvorkommen wollte der in den USA großgewordene Multimillionär über Chile nach Kalifornien verschiffen. Doch der Großteil der Gewinne aus diesem Geschäft sollte außer Landes gehen. Mit nur 18 Prozent sollten die Erträge des zuständigen Konsortiums Pacific LNG, bestehend aus British Petroleum und der spanischen Repsol-YPF, besteuert werden.

Aufflammende Proteste versuchte Sánchez de Lozada mit Kampftruppen zu ersticken. Über 60 Menschen starben im »Schwarzen Oktober«. Die Alteños, wie die Bewohner von El Alto genannt werden, aber fegten die Regierung aus Machtpolitikern, Technokraten und Washingtoner Politberatern weg. Der Präsident und seine Ministerriege mußten im Flugzeug ins goldene Exil nach Miami flüchten. Das traurige Ende vom »demokratischen Musterknaben Südamerikas« war besiegelt.

Nach Morales Erdrutsch-Wahlsieg Ende 2005 wurden Gas und Öl verstaatlicht. Selbstbewußt verhandelte die Regierung Förderverträge mit den Multis neu. 60 bis 80 Prozent der Gewinne bleiben seitdem im Land. Ölpipelines und Energietransport sind in Staatshand. Mit Buenos Aires und Brasilia wurden faire Preise vereinbart.

Politik der Würde

Seit der »Nationalisierung der fossilen Brennstoffe« 2006 sowie dank hoher Energiepreise verdient Bolivien heute wie nie an seinen Rohstoffen. Um 900 Prozent sind die Einnahmen im Vergleich zur Privatisierungsära gestiegen. In fünf Jahren nahm die MAS-Administration 16,7 Milliarden US-Dollar ein. Knapp die Hälfte verteilt der Zentralstaat direkt an Departamentos, Unis und Indigenen-Fonds. Die kommen mit dem Geldausgeben kaum hinterher. Auch Sozialprogramme für Arme, Alte und Mütter können bezahlt werden. »Wer behauptet, es gab keine Nationalisierung, der irrt sich«, verteidigt das Staatsoberhaupt die neue »Politik der Würde« gegen Kritik von rechts und links.

Geträumt wird in den Planungsstuben der Ministerien von einer Industrialisierung à la Boliviana. Weitere Raffinerien sind im Bau. Staatsfabriken für Zement, Papier und Milchprodukte gegründet. Die öffentliche Hand ist aktiv wie nie in der Wirtschaft. Auch die größten Lithium-Vorkommen der Welt im Salar de Uyuni sollen helfen. Das »Neue wirtschaftliche, soziale, gemeinschaftliche und produktive Modell«, so die Sprachregelung im Wirtschaftsministerium, hat »seinen Schwerpunkt auf Produktion und Umverteilung des Volkseinkommens«. Das Ziel ist klar, doch der Weg ist weit: »Weg vom alten Exportmodell, hin zu einem Modell, in dem die Produk­tion Vorrang hat und den Erzeugnissen Mehrwert hinzugefügt wird«.

* Aus: junge Welt, Freitag, 17. Mai 2013


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