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"Wir Indianer sind jetzt an der Macht!"

Dionicio Gutierrez über die Wahl von Evo Morales in Bolivien und den Nutzen der UNO-Dekade für indigene Völker

Das Ständige UNO-Forum indigener Völker hielt zum ersten Mal einen Workshop außerhalb New Yorks ab. Auf Einladung der dänischen Regierung und der grönländischen Autonomieregierung reisten 70 Teilnehmer in die grönländische Hauptstadt Nuuk. Aqqaluk. ND-Mitarbeiter Andreas Knudsen hatte Gelegenheit, mit Dionicio Gutierrez de Poma von CIDOB zu sprechen. CIDOB vereint 34 indianische Völkerschaften aus dem bolivianischen Tiefland mit zusammen etwa 800.000 Angehörigen.



Neues Deutschland: Die UNO-Dekade für indigene Völker 1992 – 2002 liegt nun schon geraume Zeit zurück. Was hat sie für die indianischen Völker Boliviens gebracht?

Gutierrez: In den 90er Jahren ging es zunächst hauptsächlich darum, unsere Völker zu organisieren, auf unsere Existenz aufmerksam zu machen und klarzustellen, dass wir historische Rechte einfordern. Eines der wichtigsten Kampfmittel für uns waren verschiedene Märsche, die wir in jenen Jahren organisierten. Hier versammelten wir Tausende von Indianern von verschiedensten Stämmen des Tieflandes, die vorher nicht zusammengearbeitet hatten. Die Entwicklung des indigenen Verbands CIDOB zur anerkannten Dachorganisation nahm hier ihren Ausgangspunkt. Im heutigen Bolivien wird keine Regierung, egal welche politische Ausrichtung sie hat, Beschlüsse fassen, die uns angehen, ohne CIDOB gehört zu haben. Für uns ist das die erste Phase gewesen in einem langen Kampf. Die Einrichtung eines Forums für indigene Völker bei der UNO ist ein großer Erfolg gewesen, aber benötigt mehr internationale Unterstützung und Aufmerksamkeit, um zu einem wirksamen Instrument zu werden. Eine zweite internationale Dekade würde dabei helfen.

Stand CIDOB allein in diesem Kampf und welche Erfolge gab es?

Wir haben organisatorische und auch finanzielle Hilfe aus verschiedenen europäischen Ländern, u.a. der Schweiz, Deutschland, Spanien und Dänemark, bekommen. Sie haben viel dafür getan, dass wir organisatorische Stärke und internationale Kontakte bekommen haben. Das wichtigste aber war, dass unsere Völker anfingen, für ihre Rechte zu kämpfen, und dies gemeinsam taten. Das bedeutendste Ergebnis war sicherlich 1994 die Änderung der Verfassung durch die Formulierung, dass Bolivien eine multikulturelle und mehrsprachige Gesellschaft ist.

Die Verfassungsänderung war ein großer Erfolg, aber dadurch ändert sich noch nichts an der Tatsache, dass die indianischen Völker ganz unten in der Gesellschaftspyramide stehen, oder?

Das stimmt, aber das gab uns Mut weiterzumachen und es verpflichtete die folgenden Regierungen, konkrete Schritte zu unternehmen. Seit 1996 ist ein Prozess im Gang, die indianischen Landforderungen zu registrieren und juristisch anzuerkennen. Wir haben die Überschreibung von 30 Millionen Hektar gefordert. Bisher sind sechs Millionen Hektar überschrieben worden und es wird noch Jahre dauern, bis dieser Prozess abgeschlossen ist. Beispielsweise wurden eine Reihe Großgrundbesitzerfamilien, die bis zu 25 000 Hektar per Familienmitglied besaßen, enteignet. Dazu kamen Spekulanten, die riesige Gebiete aufgekauft hatten, um auf einen geeigneten Verkaufszeitpunkt zu warten.

Ging das reibungslos ab?

Nein, aber juristisch war für die Enteigneten nicht viel zu machen. Die bolivianische Verfassung verlangt, dass Boden genutzt werden muss, sonst kann er konfisziert werden. Aber örtliche Auseinandersetzungen gab es mehr als genug.

Wem konkret gehört das Land, das den Indianern überschrieben wurde und wird?

Den einzelnen Völkern als kollektives Eigentum. Es sind auch die jeweiligen Völker, die über ihre Nutzung entscheiden. CIDOB hat da nichts zu sagen. Im Allgemeinen wird untersucht, wie die einzelnen Landstriche am Besten genutzt werden können: für Landwirtschaft, Jagd, Tourismus usw..

Was passiert, wenn Rohstoffe in indianischen Territorien ausgebeutet werden sollen?

Hier haben wir ein Riesenproblem für die Zukunft. Wir haben das Recht, das Land zu nutzen, aber das bedeutet nur deren Oberfläche. Die Ressourcen der Erde sind weiterhin Staatseigentum.

Was steht in der zweiten Phase des Kampfes an?

Viele gute Gesetze sind angenommen worden, aber sie müssen jetzt durchgeführt werden. Beispielsweise wurde eine Ausbildungsreform beschlossen und in ihrer Folge wurden drei Institute gebildet, an denen Indianer zu Lehrern ausgebildet werden. Das ist notwendig, um den beschlossenen zweisprachigen Unterricht in Spanisch und der lokalen Indianersprache durchführen zu können. Aber viele geeignete junge Menschen können nicht studieren, weil sie kein Geld haben, um ihren Lebensunterhalt in dieser Zeit zu sichern und ihre Familien können ihnen nicht helfen. Trotzdem machen wir weiter in dieser Richtung. Wir wollen auch erreichen, dass eine Art indigene Universität eingerichtet wird, die auf einem Niveau sein soll, dass sie auch staatlich anerkannt sein wird. Eine der Studienrichtungen müsste zum Beispiel die traditionelle Medizin sein.

Werden dieses Ziele leichter zu erreichen sein, nachdem Bolivien mit Evo Morales zum ersten Mal einen indianischen Präsidenten bekommen hat?

Unsere Völker haben ihn ebenfalls gewählt und wir haben vier Parlamentsabgeordnete, die unsere Interessen vertreten. Die jetzige Regierung ist auf die Hochlandindianer ausgerichtet. Tieflandindianer sind nicht an der Regierung beteiligt. Die Auflösung des Ministeriums für Indianische Angelegenheiten durch Evo war ein Schreck für uns, aber wir haben jetzt verstanden, dass es nicht mehr notwendig ist. Wir Indianer sind jetzt an der Macht! Da brauchen wir kein besonderes Ministerium mehr.
Vermutlich wird es leichter, für unsere Forderungen Gehör zu finden, aber wir haben gelernt, mit allen Arten Regierungen zu verhandeln, auch solchen, die uns feindlich gesinnt waren. Wir brauchen konkrete Verbesserungen wie Wege zu unseren Siedlungen, Licht und sauberes, fließendes Wasser.
Wir wollen auf allen Ebenen der Verwaltung mitmischen und bei den Bürgermeisterposten anfangen. Das wird dann die dritte Phase unseres Kampfes werden.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Februar 2006


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