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Boliviens Kumpel hoffen auf bessere Zeiten

Regierung von Evo Morales wirbt nach gewaltsamen Unruhen für eine Wiedergeburt des staatlichen Bergbausektors

Von Gerhard Dilger, Huanuni *

Huanuni ist Boliviens Zinnhochburg. Seit 100 Jahren beuten die Kumpel die Reichtümer des Posokoni-Bergs aus. Die letzten 20 Jahre waren geprägt von den Bedingungen des Neoliberalismus. Vor drei Monaten kam es zu blutigen Kämpfen um den Berg. Nun versucht die Regierung von Präsident Evo Morales einen Neuanfang.

Tausende Minenarbeiter und ihre Familien säumen den Sportplatz von Huanuni. Auf einer Bühne stehen mit Blütenketten behängte Würdenträger: Minister, Gewerkschaftsfunktionäre, Lokalpolitiker. Eine Militärkapelle spielt auf. 500 Polizisten marschieren vorbei. Im Hintergrund erhebt sich kahl und zerfurcht der Posokoni-Berg, unter dem die größten Zinnvorkommen Boliviens lagern. Es ist der 21. Dezember, der »Tag des Bergarbeiters«. »Wir haben uns mit den Streitkräften, indigenen Völkern und Bauern zusammengetan, um Bolivien neu aufzubauen«, ruft Bergbauminister Guillermo Dalence. »20 Jahre lang hat man versucht, mit den Minenarbeitern aufzuräumen, aber sie haben es nicht geschafft. Wir sind wieder da. Hier gehen wir den ersten Schritt bei der Nationalisierung der Minen.«

Die Nachfrage nach Zinn wächst wieder

Huanuni, 50 Kilometer südöstlich der Provinzhauptstadt Oruro im Andenhochland gelegen, ist Boliviens Zinnhochburg. Ihre Blütezeit erlebte sie nach der ersten Verstaatlichung 1952. Nach einem langen Niedergang wächst die Nachfrage seit ein paar Jahren wieder, vor allem in China und Indien. Der Weltmarktpreis für das graue Metall schnellte nach oben, Tausende strömten in der Hoffnung auf schnellen Reichtum nach Huanuni. Immer näher sind die wellblechbedeckten Steinhäuser und Holzhütten an den Posokoni herangerückt. Fast 40 000 Menschen leben hier, doppelt so viele wie vor fünf Jahren.

Sauberes Wasser und Kanalisation haben die wenigsten. Der Río Huanuni, der mitten durch den Ort fließt, ist eine einzige stinkende Kloake, in der auch noch die giftigen Rückstände aus dem Bergwerk landen. Doch die Stadt steht vor einem Neuanfang – wieder einmal.

Zählte die staatliche Firma »Minera Huanuni« vor gut drei Monaten noch 800 Angestellte, so sind es jetzt gut 5000. Private dürfen den Posokoni nicht mehr ausbeuten. Denn Anfang Oktober letzten Jahres tobte in Huanuni der »Zinnkrieg«: Viele der 4000 auf eigene Rechnung arbeitenden Männer, die »Kooperativisten«, wollten die unteren, die lukrativen Schichten der Mine im Sturm nehmen. Doch die Arbeiter des Staatsbetriebs wehrten sich, zwei schier unendliche Tage lang.

»Von hier oben haben sie Reifen voller Sprengstoff herunterrollen lassen«, sagt Evert Choque und deutet auf einen felsigen Vorsprung oberhalb des Werksgeländes. Dann zeigt der Gewerkschafter auf einen Haufen geschmolzener Blechreste, verbogener Metallgestelle und zerbrochener Backsteine – die Ruinen einer Siedlung, die durch eine Explosion zerstört wurde. »Hier haben 40 Familien gewohnt und Sprengstoff an die Kooperativisten verkauft. Eine Dynamitstange hat eine Kettenreaktion ausgelöst, es war wie eine Bombe. Zwei Frauen wurden unter den Trümmern begraben.«

Auf beiden Seiten gab es Scharfschützen. Die viel zu spät entsandten Polizeieinheiten und ein katholischer Bischof erreichten schließlich einen Waffenstillstand. Am Abend des 6. Oktober waren 16 Menschen tot und über 60 verletzt. Die Regierung hätte das Massaker verhindern können, hieß es allerorten. Präsident Evo Morales blieb zunächst sprachlos. Dann ersetzte er seinen Bergbauminister, einen Kooperativisten aus Huanuni, durch den früheren Minengewerkschafter Dalence und verstaatlichte die Mine per Dekret.

Den Weg in die Mitte des Zinnbergs weist uns Sicherheitsinspektor Fermín Ponce. Nachdem wir in den blauen Arbeitsoverall geschlüpft sind, eine Gasmaske umgehängt und die batteriebetriebene Grubenleuchte an den Helm geklemmt haben, kann es losgehen. Auf genau 4000 Meter Höhe liegt der Eingang zum Hauptstollen »Patiño 0«. Angelegt wurde er vor knapp 100 Jahren, als die Mine zum Imperium von »Zinnkönig« Simón Patiño gehörte. Dieser brachte es durch seine Bergwerke und die skrupellose Ausbeutung seiner Landsleute zum reichsten Mann Boliviens.

Unter Tage hat sich nur wenig geändert

Viel scheint sich seit Patiño an dem Stollen nicht geändert zu haben. Die Helmlampen sind die einzige Beleuchtung neben den Scheinwerfern der Miniloks, die die Loren mit dem zinnhaltigen Geröll zu den Mahl- und Schlämmanlagen gleich unterhalb der Stollenausfahrt schaffen. Die Temperaturen im Hauptstollen sind jetzt angenehm, denn es ist Sommer. »Im Winter wird es manchmal 15 Grad unter Null, da hängen hier die Eiszapfen herunter«, sagt Ponce. Kleine Gruppen von frisch angestellten ehemaligen Kooperativisten sind in Seitengängen mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Alle kauen Koka, von der vorgeschriebenen Ausrüstung haben sie nur Helm und Leuchte, selbst Handschuhe fehlen manchmal. »Das wird ein langwieriger Übergangsprozess«, sagt Ponce, der die zwei »konträren Arbeitskulturen« aus eigener Anschauung kennt. »Seit 20 Jahren gibt es Streit um den Berg. Nach den Massenentlassungen von 1985 haben viele arbeitslos gewordene Kumpel angefangen, die stillgelegten Stollen wieder zu aktivieren«, erzählt der 46-Jährige. Auch er quälte sich eine Zeitlang als Selbstständiger. »Das ist viel gefährlicher, aber wer Glück hat, verdient in wenigen Tagen einen ganzen Monatslohn.«

Ponce schlug sich lieber als Fahrer durch. Erst vor zehn Jahren bekam er eine Anstellung in der Staatsfirma mit festem Gehalt und Sozialleistungen. Seitdem hat er sich in die Führungsposition als Inspektor hochgearbeitet, wie er stolz berichtet. Jetzt befürchtet er, die individualistischen Neukollegen könnten im Betrieb »Ordnung und Disziplin« untergraben.

Ein Lastenaufzug bringt uns 200 Meter weiter in die Tiefe zur Ebene -200. Hier ist die Luft stickig und warm, die Gänge sind enger und niedriger. Stößt man mit dem Helm an die Starkstromleitung, blitzt und kracht es. Schweißüberströmt schippt ein junger Ex-Kooperativist Zinngeröll aus einer umgekippten Lore zur Seite.

Auf einer Rampe wird ein Wagen mit Rohmaterial aus der tieferen Ebene -240 hochgezogen und in die bereitstehenden Loren gekippt. Je tiefer die Schicht, desto höher der Zinngehalt. »Die Ebenen - 240, -280 und -320 werden in den nächsten Jahren mit moderner Technik erschlossen, die Mahl- und Schlämmanlagen ausgebaut«, sagt Ponce. »Das hat der Minister versprochen.«

Auf dem Rückweg erzählt Ponce, wie die Staatsfirma vor sechs Jahren ein ungleiches Joint Venture mit dem britischen Investor Allied Deals einging, der mit einer halben Million Dollar 85 Prozent der Anteile erwarb. »Doch anstatt die zehn Millionen zu investieren, wie sie versprochen hatten, haben sie den Berg nur weiter ausgeplündert.« Zudem kaufte Allied Deals die staatseigene Zinnschmelze bei Oruro. Nachdem die Firma in London Konkurs angemeldet hatte, übernahm in Huanuni der Staat.

Verkauft, ausgebeutet und betrogen

Die Schmelze ging im Juni 2002 an das Unternehmen Comsur von Gonzalo Sánchez de Lozada, der die Wirtschaftspolitik ab 1986 als Minister und Präsident maßgeblich bestimmt hatte. Zwei Monate später wurde der Minenmilliardär mit dem nordamerikanischen Akzent erneut zum Staatschef gewählt, im Oktober 2003 wurde er gestürzt. 2005 kaufte der Schweizer Rohstoffmulti Glencore Comsur für 220 Millionen Dollar. »So hat der Neoliberalismus für uns funktioniert«, sagt Fermín Ponce und lacht bitter. Ob alle ehemaligen Kooperativisten klein beigeben werden, ist für ihn noch offen. Im letzten September hatten sie versucht, den Konkursverwaltern in London Aktien des Bergwerks abzukaufen. Als sie merkten, dass sie nicht durchkamen, bliesen sie zum Angriff.

Immer wieder ist Minister Dalence seither angereist, um geduldig für die »Wiedergeburt des staatlichen Bergbausektors« zu werben. Nach einem Treffen mit Firmenleitung, Gewerkschaftern und Kooperativisten sagt er in die Mikrofone der Lokalradios: »Wir haben 25 Millionen Dollar, um Huanuni zur Speerspitze des Bergbaus zu machen. Wenn Arbeiter, Techniker und Regierung an einem Strang ziehen, ist das zu schaffen.«

»Alle weiteren Projekte müssen wir prüfen«, sagt Dalence – auch die von Evo Morales angekündigte Nationalisierung der Glencore-Schmelze. Trotz des Engagements des Ministers blieb die Regierungsstrategie lange nebulös. Dass Morales seinen Besuch am »Tag des Bergarbeiters« in letzter Minute abgesagt hat, wegen »dringender Aufgaben« und angeblicher Sicherheitsbedenken, passt ins Bild.

Vor wenigen Tagen gab Morales bekannt, ähnlich wie im Energiebereich wolle der Staat 2007 die Kontrolle über den gesamten Bergbau zurückgewinnen und ihre Steuereinnahmen vervielfachen. 2006 habe Bolivien bei Exporterlösen von einer Milliarde Dollar nur 45 Millionen an Steuereinnahmen erhalten, rechnete Minister Dalence vor, »das ist lächerlich«.

Hat die neue Firma in Huanuni eine Zukunft? Die Zinnvorkommen dort sollen mehrere hundert Millionen Dollar wert sein. Doch die Arbeiter auf dem Sportplatz bleiben skeptisch. »Zwei Jahre ist unser Job sicher«, sagt Evert Choque, »vielleicht auch länger, wenn der Zinnpreis oben bleibt.« Fermín Ponce zuckt nur mit den Achseln und sagt: »Es ist unsere letzte Chance«.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2007


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