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Streit um Ländereien

Landbesetzung in Bolivien führt zu schweren Auseinandersetzungen

Von Benjamin Beutler *

Seit rund einer Woche kommt es im bolivianischen Tiefland-Departamento Santa Cruz wiederholt zu massenhaften Landbesetzungen. So waren am vergangenen Sonntag über 2000 Menschen auf das Gelände der Zuckerrohrfabrik San Aurelio vorgedrungen. Bei heftigen Zusammenstößen zwischen den Besetzern und Sicherheitskräften sowie den rund 800 Angestellten des einflußreichen Familienbetriebs erlitten mehrere Menschen zum Teil schwere Verletzungen, es kam zu erheblichem Sachschaden. Unbestätigt sind Berichte über ein Todesopfer. Ein Schwerverletzter war von einem Taxifahrer ins Krankenhaus gebracht worden. Dieser berichtete über einen Verkehrsunfall, während die Hinterbliebenen die Besetzer für den Tod des Familienvaters verantwortlich machen. Der war erst seit zwei Wochen als Wachmann in San Aurelio beschäftigt. Die Autopsie ergab als Todesursache schwere Kopfverletzungen.

Erst am Dienstag konnte die Polizei die angespannte Lage etwas beruhigen, die völlige Zerstörung des Industriekomplexes wurde verhindert. »Wir hatten Geheimdienstinformationen, daß die Möglichkeit einer Eskalation bestand«, erklärte Polizeichef Óscar Nina die zunächst zurückhaltende Strategie der Sicherheitskräfte. Kurz davor war die Anwerbung bewaffneter Schlägertrupps durch die Fabrikleitung bekannt geworden. Weil die Besetzer Büros gestürmt, Computer und Gerätschaften mitgenommen sowie ein Labor zur Zuckerrohranalyse zerstört hatten, war die Polizei von der Eignerfamilie, dem Verband der Zuckerrohrwirtschaft und lokalen Medien wegen »offensichtlicher Untätigkeit« scharf kritisiert worden.

Doch der Verzicht auf polizeiliche Gewalt ging auf. In einer am Dienstag im Fernsehen und Radio übertragenen Pressekonferenz appellierte Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera mit »Respekt und Nachdruck« an die Besetzer: »Ziehen Sie sich von diesen Grundstücken zurück, diese Besetzung ist illegal, sie hat keine Perspektive. Sie können sich diese Ländereien nicht aneignen, was auch immer Sie machen«, forderte der Exguerillero. Das Privateigentum müsse respektiert werden. In der Nacht zum Mittwoch zogen sich die meisten Besetzer, die sich mit ihren blauen Plastikzelten über die rund 900 Hektar Firmengelände verteilt hatten, dann in kleinen Gruppen zurück.

Während sich die Lage vor Ort seither langsam beruhigt, bleibt die politische Urheberschaft der Aktion undurchsichtig. Zwar erklärte sich eine bisher unbekannte »Bewegung ohne Bauland« (MSL) verantwortlich. Auf dem besetzten Land habe man Siedlungen errichten wollen. Die Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) sieht hingegen die »Bewegung ohne Angst« (MSM) als eigentliche Strippenzieherin hinter der Erstürmung an. Dem aus den Regionalwahlen Anfang April als landesweit zweitstärkster Kraft hervorgegangenen einstigen politischen Partner soll so offenbar der Schwarze Peter untergeschoben werden. Streit um gemeinsame Kandidaturen hatte beide linken Lager an den Rand einer offenen Feindschaft gebracht. Auch gut eine Monat nach der Wahl, bei der die MSM der MAS mit dem Gewinn der Rathäuser von La Paz und der Hochlandstadt Oruro zwei empfindliche Niederlagen zufügen konnte, ist von politischer Partnerschaft keine Spur. MAS-Fraktionschef Franklin Gervizú, selbst aus Santa Cruz, beschuldigte einen lokalen MSM-Funktionär des Vorfalls. Medien berichteten von Luxus-Geländewagen, welche die Besetzer begleitet hätten. Die MSM-Führung hingegen dementierte alle Vorwürfe.

Abseits jeder Parteipolitik zeigt der Konflikt von San Aurelio jedoch deutlich, daß die ungelöste Landfrage im bolivianischen Tiefland die MAS-Regierung noch lange in Atem halten wird.

* Aus: junge Welt, 29. April 2010


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