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In Lateinamerika beginnt "Kampf gegen Großgrundbesitz"

Morales macht ernst mit der Landreform in Bolivien: Wenige Großgrundbesitzer verfügen über 90 Prozent des Acker- und Weidelandes



Start für Landreform in Bolivien

Blockadekurs der Großbauern gegen Politik von Präsident Morales

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre*

Nach der Erdgasnationalisierung hat Boliviens Präsident Evo Morales am Wochenende die Umsetzung eines weiteren Wahlversprechens auf den Weg gebracht: eine umfassende Landreform.

Am Samstag überreichte Präsident Morales in Santa Cruz de la Sierra, der Hochburg des bolivianischen Agrobusiness, Landtitel über 30 000 Quadratkilometer für gut 3500 Indígena- und Kleinbauernfamilien. Weitere 22 000 Quadratkilometer würden in den kommenden Monaten verteilt, kündigte Morales vor Tausenden Kleinbauern an: »Bisher reden wir von staatlichen Ländereien, aber der nächste Schritt wird der Großgrundbesitz sein, der seine wirtschaftliche und soziale Funktion nicht erfüllt.« Als Motto der »Agrarrevolution« gab er aus: »Das Land denen, die es selbst bearbeiten.«

In den kommenden fünf Jahren, so das ehrgeiziges Ziel des Präsidenten, sollen 200 000 Quadratkilometer Agrarland umverteilt werden, vor allem im Amazonasgebiet und in Ostbolivien. Das wäre knapp ein Fünftel der Fläche Boliviens. Damit will er an die Agrarreform von 1953 anknüpfen, die sich weit gehend auf das westliche Andenhochland beschränkt und Tausende Kleinsteigentümer geschaffen hatte. Morales sprach sich außerdem für eine »ökologische Produktion« und gegen gentechnisch veränderte Produkte aus. Die Großbauern, die im Vorfeld auf Blockadekurs gegangen waren, attackierte er: »Sie und ihre Großväter haben unser Land über 500 Jahre lang an sich gerissen. Dieses Land muss an seine absoluten Eigentümer zurückgegeben werden«.

»Wenn uns der Rechtsstaat nicht verteidigt, müssen wir das selbst tun«, gab Verbandschef José Céspedes zurück und kündigte die Bildung von »Verteidigungskomitees« an. Selbst von bewaffnete Milizen ist die Rede. Der Bauernfunktionär Mauricio Roca warnte davor, Waldgebiete in die Landreform mit einzubeziehen, und sagte, die Regierung habe kein Interesse daran, eine mit den Großgrundbesitzern abgestimmte nationale Agrarpolitik umzusetzen. Die wohlhabenden Agroexporteure der Region Santa Cruz fürchten um ihre Privilegien. Morales sagte jedoch, seine Politik zu Gunsten der Kleinbauern bedeute nicht, dass die Interessen der Rinder- und Sojafarmer vernachlässigt würden.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Juni 2006

Morales bringt Bolivien weiter auf Linkskurs

Boliviens Präsident Evo Morales hat nach der Verstaatlichung des Ölsektors eine Bodenreform eingeleitet und das Land damit weiter auf Linkskurs gebracht. Im Rahmen der Reform soll mehr als ein Fünftel der Landfläche an arme Bauern übergehen.

Zunächst soll dafür Land in Staatshand genutzt werden, später eventuell auch brachliegende Flächen in Privatbesitz folgen. Bereits vor dem Wochenende formierte sich Widerstand unter Grundbesitzern gegen etwaige Enteignungen. Sie wolle sich zu Selbstverteidigungsgruppen zusammenschließen. Ob die Grundbesitzer dabei auch zur Waffe greifen wollen, blieb zunächst unklar. (...)

Der sich abzeichnende Konflikt legt die großen sozialen Spannungslinien in dem ärmsten Staat Südamerikas offen. Nach Schätzungen der katholischen Kirche verfügen einige wenige Großgrundbesitzer über 90 Prozent des Acker- und Weidelandes, während den rund drei Mill. Indio-Bauern nur der Rest bleibt.
(...)
Mit Santa Cruz wählte der Präsident als Ort für die Übergabe der Besitzurkunden das Stammland der wohlhabenden Landbesitzer aus. Die Gespräche zwischen beiden Seiten waren am Freitag [2. Juni 2006] ergebnislos abgebrochen worden. In der Region gibt es vor allem große Rinder-Ranches und Soja-Plantagen.

(...) Während die von Morales im vergangenen Monat vorgenommene Verstaatlichung des Energiesektors in dem Andenstaat kaum umstritten ist, hat die Landreform die tiefe Spaltung zwischen der zumeist verarmten Mehrheit aus Indios und der von Europäern abstammenden Oberschicht offenbart.

Quelle: Handelsblatt (online), 5. Juni 2006; www.handelsblatt.com

Radio Vatikan meldete

Präsident Evo Morales macht ernst mit der angekündigten Landreform. In Santa Cruz übergab er jetzt Besitzurkunden für drei Millionen Hektar Regierungsland an etwa 60 arme Bauern. Santa Cruz ist Brasiliens Landwirtschaftsmetropole und gilt als Hochburg von Großgrundbesitzern. Der linksgerichtete Präsident, ein Indio, hat angekündigt, ein Fünftel des bolivianischen Territoriums an arme Bauern zu übereignen. Landbesitzer haben mit der Bildung von so genannten "Selbstverteidigungsgruppen" gedroht.
5. Juni 2006



"Achse des Guten"

Unterstützung für Morales aus Europa und Südamerika. USA sollen Putsch planen. Annäherung an Uribe

Von Jeroen Kuiper (Caracas) und Harald Neuber**

Während in Europa die negativen Schlagzeilen über die fortschrittlichen Regierungen in Südamerika dominieren, gibt es gleichsam Indizien einer politischen Annäherung. Nach ersten freundschaftlichen Kontakten zwischen den Staatschefs von Frankreich und Bolivien während des Europäisch-Lateinamerikanischen Gipfeltreffens in Wien Anfang Mai, erntete der Sozialist Morales nun erneut Lob des Neogaullisten Jacques Chirac. Am Rande eines Besuches in Santiago de Chile äußerte der konservative französische Staatschef am vergangenen Wochenende seinen »Respekt« vor dem bolivianischen Amtskollegen. Morales habe »seinem Volk die Ehre zurückgegeben, die es über Jahrhunderte verloren hatte«, urteilte Chirac. Der Bolivianer revanchierte sich umgehend und lud seinen französischen Amtskollegen für den 6. August nach Sucre zur konstituierenden Sitzung der verfassungsgebenden Versammlung ein.

Währenddessen wird das Bündnis zwischen Bolivien, Kuba und Venezuela weiter gefestigt. Im bolivianischen Koka-Anbaugebiet Chapare im Norden des Departements Cochabamba hatten Morales und der venezolanischen Präsident Hugo Chávez im Beisein von Kubas Vizepräsidenten Carlos Lage Ende vergangener Woche mehrere Handelsabkommen unterzeichnet. Die Verträge vertiefen eine Zusammenarbeit, die vor wenigen Wochen in Havanna etabliert worden war.

Chávez nahm das Treffen auch zum Anlaß, Umsturzpläne der US-amerikanischen anzuprangern. Washington plane von der US-Botschaft in La Paz aus einen Putsch gegen Morales, so Chávez. US-Präsident George W. ­Bush hatte kurz zuvor tatsächlich seiner »Besorgnis« über den »erodierenden Zustand der Demokratie« in Bolivien und Venezuela Ausdruck verliehen. Morales bezeichnet die Zusammenarbeit zwischen Bolivien, Venezuela und Kuba hingegen als »Achse des Guten«.

Parallel zur Annäherung zwischen Caracas, Havanna und La Paz strebt Chávez nun auch ein taktisches Abkommen mit dem gerade wiedergewählten kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe an. Venezuela hatte zwar erst im vergangenen Monat ankündigte, aus der Andengemeinschaft (CAN) auszusteigen. Nun aber erklärte sich Chávez bereit, über den Vorschlag Uribes zur Gründung einer »Bolivarianischen Andenkonföderation« (CBA) nachzudenken. So zeichnet sich erstmals eine Annäherung zwischen den widersprüchlichen Lagern ab: Uribe ist einer der entschiedensten Fürsprecher des neoliberalen Freihandels mit den USA. Chávez hingegen lehnt entsprechende Verträge ab, um mit der »Bolivarianischen Alternative für die Amerikas« (ALBA) und dem »Handelsvertrag der Völker« (TCP) eigene Gegenprojekte zu forcieren.

Diesem Zweck dienten auch die Abkommmen, die in Chapare geschlossen wurden. Bolivien und Venezuela wollen demnach bei der Industrialisierung von Agrarprodukten wie Soja, Milch, Tee, Kaffee und Kokablättern zusammenarbeiten. Zugleich kündigte Morales eine umfassende Landreform an. Ähnlich wie in Venezuela, wo Chávez bereits im vergangenen Jahr einen »Kampf gegen den Großgrundbesitz« ausrief, sind in Bolivien rund 90 Prozent der wirtschaftlich nutzbaren Fläche in Händen von weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Im Energiebereich sagte Venezuela zu, monatlich 200000 Barrel Diesel zu Vorzugspreisen an Bolivien zu liefern. Das Geld für die Lieferungen wird aber nicht an die venezolanische Staatskasse fließen. Statt dessen wird Bolivien umgerechnet 100 Millionen Dollar pro Jahr in einem gemeinsamen Fonds investieren. Aus ihm soll mittelfristig ein gemeinsames entwicklungspolitisches Kreditinstitut entstehen: die »Bank des Südens«.

** Aus: junge Welt, 31. Mai 2006


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