Evo Morales' demokratische Revolution
Robert Lessmann hat ein Standardwerk über das neue Bolivien vorgelegt
Von Helge Buttkereit *
Seit seinem Amtsantritt im Januar 2006 treibt Boliviens Präsident Evo
Morales mit seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS) die Neugründung des
Andenstaates voran. Der Autor Robert Lessman zog mit seinem Buch eine
erste Bilanz.
Nach knapp fünf Jahren Präsidentschaft von Evo Morales und seiner
beeindruckenden Wiederwahl vor knapp einem Jahr - mit der das
vorliegende Buch endet - ist ein erster zusammenfassender Überblick über
die Entwicklung des neuen Boliviens angebracht. Robert Lessmann, der die
Situation in dem lateinamerikanischen Land seit Jahren verfolgt, ist
dafür wie kein anderer geeignet. Sein Buch »Das neue Bolivien - Evo
Morales und seine demokratische Revolution« ist damit nicht nur die
erste Gesamtdarstellung der Neugründung des Landes, sondern es kann im
deutschen Sprachraum mit Fug und Recht als das Standardwerk bezeichnet
werden.
Lessmann steht dabei dem »Proceso de Cambio«, dem Wandlungsprozess im
Sinne der Neugründung des Landes, grundsätzlich positiv gegenüber. Er
spart aber auch nicht mit Kritik, wenn er sie für notwendig erachtet.
Der Autor verfällt nicht der in Bolivien zum Teil vorherrschenden
Romantik des Alten. Er sieht die Möglichkeiten und die Potenzen in einer
Rückbesinnung auf das Gemeinschaftsgefühl der Indigenen, aber er
beschreibt auch die Despotie der vorkolonialen Zeit. Es wird in
Lessmanns Darstellung klar, dass die neue Gesellschaft, wenn sie eine
befreite Gesellschaft sein will, zwar auf der alten aufbauen muss und
dort auch viele Bezugspunkte findet, sie aber vieles von dem abstreifen
muss, was die Menschen über Jahrhunderte, man kann fast sagen
Jahrtausende in Abhängigkeit und Unfreiheit gehalten hat.
Lessmann verfolgt die Geschichte Boliviens ausgehend von den Tiwanaku-
und Inka-Kulturen, was seine Betrachtung der heute noch in Teilen
bestehenden ayllu-Strukturen historisch fundiert und vor Mystifikationen
schützt. Denn natürlich ist der ayllu, die andine Dorfgemeinde, als die
in abgelegenen Regionen noch fast ungebrochene traditionelle
Organisationsform der Gemeinde eine Form von Gemeinschaftlichkeit, die
in der modernen, individualistischen, westlichen Gesellschaft verloren
ist. Gleichzeitig wohnt ihr ein Zwangscharakter inne, den Lessmann
ebenso beschreibt und erklärt. Der Einzelne habe sich dem Kollektiv
unterzuordnen, das wiederum nicht vom Einzelnen aus dem Bedürfnis nach
Gemeinschaft, sondern durch die abstrakte Logik einer außer ihm
stehenden Gemeinschaftsideologie gebildet wird. Lessmann durchdringt
dieses Kernproblem der Differenz von alter und potenziell neuer
Gesellschaft zu wenig. Aber dies sieht er auch nicht als seine Aufgabe,
er begnügt sich mit der Beschreibung dessen, was er aktuell und
historisch vorfindet. Das ist für die Übersichtlichkeit einer
einführenden Studie sinnvoll, macht aber gleichwohl auf die
Notwendigkeit weiterer Arbeiten aufmerksam.
Ausgestattet mit dem historischen Hintergrund fällt es dem Leser
leichter, das aktuelle Bolivien zu verstehen. Lessmann beschreibt
kenntnisreich die Revolution von 1952, die Zeit der Diktatur, die
neoliberale Wende des Jahres 1985 und den Aufstieg der neuen sozialen
Bewegungen. Dabei wäre es sinnvoll gewesen, die Beziehungen zwischen
Basis und heutiger Regierungspartei, der Bewegung zum Sozialismus (MAS)
ein wenig stärker zu beleuchten. Denn nachdem Evo Morales an der Spitze
der indigen geprägten sozialen Bewegungen die Präsidentschaft angetreten
hat, müssen sich für die Neugründung sowohl der Staat als auch die
Bewegung modifizieren. Das erklärt Lessmann zwar nicht, seine klare
Darstellung der Probleme des Boliviens in Neugründung zeugt aber davon.
Auch an diesem Punkt spiegelt das Buch den derzeitigen Diskussionsstand
in Bolivien wieder. Mehr kann man von einem einführenden Werk auf 250
Seiten, das übrigens mit einigen eindrucksvollen Farbfotos angereichert
ist, auch nicht erwarten.
Robert Lessmann: Das Neue Bolivien. Evo Morales und seine
demokratische Revolution, Rotpunktverlag, Zürich 2010, 252 Seiten, 22
Euro.
* Aus: Neues Deutschland, 26. Oktober 2010
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