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Authentische Analysen

Álvaro García Linera ist nicht nur Boliviens Vizepräsident, er ist auch ein begnadeter Soziologe. Erstmals liegen seine Arbeiten nun auf deutsch vor

Von Dieter Boris *

Das soeben erschienene Buch von Álvaro García Linera ist aus mehreren Gründen bemerkenswert und allen zur Lektüre empfohlen, die sich für die »Linkswende« in Lateinamerika und ihre Erklärung aus marxistischer Perspektive interessieren. Der Autor ist nicht nur Vizepräsident von Bolivien. Er gehört auch zu den führenden linken Theoretikern des Subkontinents. Ursprünglich Mathematiker, begleitet García Linera inzwischen seit Jahren als belesener Soziologe die Umwandlungsprozesse des südamerikanischen Landes mit scharfsinnigen Analysen. In seinem Vorwort bemerkt der ehemalige UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler: »Der 49jährige García Linera ist einer der bedeutendsten und klügsten Soziologen Lateinamerikas. Als junger Mann kämpfte er in der Guerillaarmee Tupac Katari. 1992 wurde er von der Geheimpolizei verhaftet und verschwand für fünf Jahre – ohne Gerichtsverfahren – im Hochsicherheitsgefängnis von La Paz.«

Der sehr sorgfältig von Stephan Rist (Universität Bern) edierte Band enthält fünf wissenschaftlich-politische Abhandlungen aus den Jahren von 2000 bis 2010. Abgerundet wird er mit einem längeren Interview, das Rist und Andreas Simmen mit dem Autor im Januar 2011 führten. Die in den Aufsätzen behandelten Themen sind vielfältig: Es geht um den Niedergang des neoliberalen Wirtschafts- und Politikmodells Boliviens und den Aufstieg verschiedener sozialer Bewegungen, vor allem der indigenen in ihren verschiedenen Schattierungen. Insbesondere widmet sich García Linera der Analyse der ethnisch-sozial stark fragmentierten bolivianischen Gesellschaft sowie des Staates, oder besser: der Veränderung von Staatlichkeit im Übergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung seit dem Amtsantritt von Evo Morales 2006. Dieser hat den Anspruch, die Gleichberechtigung der »Nationen« bzw. »Ethnien« unter dem Dach eines sogenannten »pluri-nationalen Staates« bei weitgehender Autonomie der Provinzen, Kommunen und Dorfgemeinschaften zu ermöglichen. Zudem strebt die Regierung eine soziale Grundsicherung sowie die ökonomische Besserstellung aller Bolivianer an. Es geht also um eine neue Gesellschaft, die nicht nur einen nach innen gerichteten Entkolonialisierungsprozeß zu vollziehen hat, sondern auch gegenüber »außen« die volle politische und ökonomische Souveränität herzustellen versucht. Ein Mittel hierzu ist etwa, die Einnahmen aus den reichhaltigen einheimischen (Natur-)Ressourcen wie Erdgas an die eigene Bevölkerung fließen zu lassen.

In seiner Staatsanalyse bezieht sich García Linera auf so unterschiedliche Denker wie Robespierre, Marx, Gramsci, Bourdieu und Foucault, aber auch auf den bolivianischen Marxisten René Zavaleta. Der Staat wird als eine vielgliedrige, materielle und immaterielle Erscheinung verstanden: »als politische Wechselbeziehung sozialer Kräfte«, als »institutionelle Materialität« und »generalisierte kollektive Idee oder Überzeugung«. García Linera interessiert, wie sich diese verschiedenen Elemente transformiert haben. Und ebenso, welche Akteure mit welchem dauerhaften Erfolg diese Veränderungen bewirken konnten. Diese Problematik darf keineswegs als bloß akademisch-theoretisch mißverstanden werden. Im Gegenteil: Es sind wesentliche Fragen früherer Revolutionsprozesse und damit eine vitale Herausforderung der aktuellen linken bolivianischen Regierung. Diese hat sich sowohl mit radikal »anti-etatistischen« Positionen auseinanderzusetzten, die das Einnehmen und Nutzen staatlicher Machtpositionen als per se »verräterisch« oder »abweichlerisch« denunzieren. Zugleich gibt es in ihr eine Strömung, die den »Staat« als relativ neutrales Instrument der Entwicklung betrachtet. Dem Autor gelingt es, den bolivianischen Revolutionsprozeß differenziert und jenseits der beiden Extrempole einzuordnen.

Wenn García Linera über soziale Bewegungen schreibt, macht der ehemalige Guerillero das nicht als Außenstehender, sondern als Insider: Eindrucksvoll legt er dar, wie etwa bei dem gegen die Privatisierungsabsichten der damaligen Regierung gerichteten »Wasserkrieg« im Jahr 2000 oder dem »Krieg um das Erdgas« zwei Jahre später tage- und wochenlang »die territoriale Macht vom Staat auf die ›cabildos‹ (Basisdemokratische Vollversammlungen der Räte)« verlagert wurde. Möglich wurde das durch Rückgriff auf »Rotationsprinzipien« der Produktionsorganisation in Dorfgemeinschaften. Diese vorkolonialen, kollektiven Formen der Arbeitsteilung ermöglichten die zeitweise Freistellung von Bevölkerungsteilen der Dorfgemeinschaft, um allgemein-politische oder infrastrukturelle Aufgaben zu bewältigen.

Bemerkenswert sind auch die Ausführungen über die Rolle der bewaffneten Staatsorgane im Prozeß der »Neugründung« des Landes. Für García Linera hat sich in Militär und Polizei eine »Umorientierung« vollzogen. Durch ihre Stabilität und Treue hätten sie sogar einen entscheidenden Beitrag zur »temporären Stabilisierung des neuen Machtblocks« geleistet. Diese optimistische Einschätzung führt er auf die wiedererlangte »Vorhersehbarkeit und Sicherheit«, etwa in bezug auf pünktliche und angemessene Entlohnung unter der Regierung Morales, sowie auf die frühe strategische Ausrichtung der Armee auf demokratische Aufgaben zurück. Hier sei etwa logistische Hilfe bei den neuen Sozialtransfers oder beim Straßenbau genannt.

Sicherlich, vor dem Hintergrund zunehmender Konflikte zwischen einzelnen sozialen Bewegungen und der Regierung im Laufe des Jahres 2011 hätte manches vielleicht noch mehr problematisiert werden können. Trotzdem sind die von García Linera vorgelegten Analysen und theoretischen Konzepte wertvoll: Sie geben nicht nur Auskunft über die gegenwärtigen Transformationsprozesse von Gesellschaft und Staat in Bolivien, vor allem müssen sie als ein wichtiger Beitrag zu einer authentisch lateinamerikanischen Gesellschaftsanalyse angesehen werden können.

Álvaro García Linera: Vom Rand ins Zentrum - Die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien. Rotpunktverlag, Zürich 2012, 301 Seiten, 28 Euro

* Aus: junge Welt, 27. Februar 2012


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