Marsch erreicht La Paz
Zu Fuß durch Bolivien: 75 000 Menschen demonstrieren für Verfassungsreferendum. Opposition blockiert Gesetz im Kongreß
Von Benjamin Beutler *
Boliviens Millionenmetropole La Paz sieht unruhigen Tagen entgegen. Am gestrigen Montag erreichte ein acht Kilometer langer Zug von mindestens 75000 Menschen den Regierungssitz in den Anden. Bereits eine Woche lang war ein großer Teil von ihnen durch das Land gezogen, um seine Unterstützung für die neue Verfassung zu demonstrieren.
Der Anlaß für den Massenmarsch: Bis heute blockiert die rechte Opposition ein Volksabstimmungsgesetz. Dieses ist notwendig, um ein Annahmereferendum über die bereits im Dezember 2007 vom Verfassungskonvent verabschiedete neue Magna Charta durchzuführen, mit der Präsident Evo Morales »Bolivien neu gründen« will. Zuletzt scheiterte am vergangenen Wochenende im Kongreß (Parlament und Senat) das Vorhaben der sozialistischen Regierung, das entsprechende Gesetz zu verabschieden. Die Opposition verweigerte ihre Zustimmung erneut unter dem Vorwand, man sei gegen die in der neuen Verfassung geplante Wiederwahl des Präsidenten auch nach zwei Amtszeiten.
Um den von den sozialen Bewegungen vor mehr als zehn Jahren begonnenen Verfassungsprozeß endlich zum Abschluß zu bringen, waren am vorvergangenen Wochenende Tausende indigene Bauern, Arbeiter und Anhänger der regierenden »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) zu Fuß gen La Paz aufgebrochen. Morales selbst hatte den »historischen Marsch« im 200 Kilometer entfernten Distrikt Caracollo verabschiedet.
»Wir schwören auf die Mutter Erde und auf die Seelen von Túpac Katari und Bartolina Sisa, daß wir mit einem Gesetz in der Hand zurückkommen werden«, gab sich Fidel Surco, Vorsitzender des regierungsfreundlichen Zusammenschlusses der sozialen Bewegungen »Nationale Koordination für den Wandel (CONALCAM) kämpferisch. Er bezog sich auf die Aymara-Helden, die Ende des 18. Jahrhunderts mit der Einkesselung von La Paz gegen den spanischen Kolonialismus rebelliert hatten.
Schon im Januar dieses Jahres hatten Mobilisierungen in La Paz dazu geführt, daß der Kongreß gegen die massiven Proteste der Opposition mit Zweidrittelmehrheit aller anwesenden Mitglieder den Weg freigemacht hatte für eine Abstimmung. Allerdings verhinderte danach das Nationale Wahlgericht (CNE) unter Berufung auf »juristische, politische und technische Gründe« den Urnengang. Auch ein folgendes Präsidialdekret im September lehnte das CNE wegen »Verfassungswidrigkeit« ab und forderte einen erneuten Kongreßbeschluß. Die dortigen Mehrheitsverhältnisse (84 MAS-Sitze gegen 73 verschiedener Oppositionsparteien) ermöglichen der Rechten genügend Spielraum, um die »demokratisch-kulturelle Revolution« der MAS auch auf parlamentarischer Ebene weiter zu bremsen.
Man sei »Millimeter vor großen Übereinkünften«, hatte Boliviens Vizepräsident und Kongreßvorsitzender Álvaro García Linera die Debatte seines Hauses am Samstag noch optimistisch eröffnet. Er hatte Grund dafür: Während die Opposition den Verfassungstext »nachbessern« will, spricht die MAS von »flexibilisieren«.
Wie weit die Regierungspartei mittlerweile zu Kompromissen bereit zu sein scheint, zeigt ihr Umgang mit der Landfrage. Zwar soll ein »beratendes Referendum« über die Einführung einer Obergrenze von Landbesitz entscheiden (5000 oder 10000 Hektar). Auch die »Erfüllung einer sozialen Funktion« von Land wird zwingend. Jedoch sollen die Bestimmungen bei Inkrafttreten nicht, wie von den Wahlmännern des Verfassungskonvents ursprünglich vorgesehen, rückwirkend gelten -- bestehende Eigentumsverhältnisse blieben unangetastet. Dies wäre eine große Konzession an die Reichen: Hundert Familien kontrollieren 25 Millionen Hektar Grund und Boden.
Die Opposition gibt sich derweil gewohnt alarmistisch: Der Protestmarsch sei »diktatorisch«, der Kongreß befände sich »in Geiselhaft«, ein »Putsch gegen das Parlament« sei geplant. Die kommenden Tage werden zeigen, was der Druck der Straße wirklich erreichen kann.
* Aus: junge Welt, 21. Oktober 2008
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