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"Die Rechte versucht, unseren Willen zu brechen"

Neue Verfassung in Bolivien soll Ausbeutung und Diskriminierung beenden. Ein Gespräch mit Robert Aguilar Gómez *

Robert Aguilar Gómez ist Soziologie und Vizepräsident der Verfassungsgebenden Versammlung Boliviens



Im Dezember 2007 sind in Bolivien Eckpunkte für eine neue Verfassung verabschiedet worden. Warum stecken so viele Menschen Hoffnungen in sie?

Alle Probleme in Bolivien sind auf die historische Vergangenheit des Landes zurückzuführen. Seit Gründung der Republik 1825 wurden die Probleme im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich nicht gelöst, wurden aufgestaut, komplexer und widersprüchlicher. Die größten Probleme liegen in der Wirtschaft. Der in Bolivien Ende der 80er Jahre eingeführte Neoliberalimus hat anstelle von Wachstum und Entwicklung nur noch mehr Arbeitslosigkeit und Armut hervorgebracht. Das Volk hat diesen Schlag voll abbekommen und wollte nicht mehr unter diesen Bedingungen leben. Die indigenen Völker hatten an erster Stelle unter der Ausbeutung zu leiden und artikulierten ihre Forderungen nach politischer Beteiligung. Mit der Krise der traditionellen Parteien, des Staates, seiner Institutionen und der Krise der korrupten Justiz wurde die Forderung nach einem Wandel immer lauter.

Was genau soll sich ändern?

Kurz gesagt: Keine Ausbeutung mehr, keine Unterordnung, keine Diskriminierung, kein Rassismus. Die korrupte Justiz soll sich ändern, sowie die alten Parteien, die niemanden vertreten. Der heutige Präsident Boliviens, Evo Morales, vereint diesen Wunsch nach Veränderung. Das erklärt den Wahlsieg 2005.

Machtgewinn und Veränderung über Wahlurnen - ist das bis heute die einzige Strategie der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS)?

Mit den Waffen, Instrumenten und Institutionen des politischen Gegners werden wir ihn schlagen. Das Ergebnis: Mit 54 Prozent der Stimmen wurde die MAS 2005 gewählt. Als Mittel des politischen Ausdrucks hat sich die Bewegung in einem langsamen Prozeß nach und nach gebildet. Ursprünglicher hieß die Organisation ISPS: »Politisches Instrument für die Selbstbestimmung der Völker«, eine Vereinigung der bäuerlichen Gewerkschaften in ihrem syndikalen als auch politischen Kampf. Die MAS gewann erst auf gewerkschaftlicher, dann auf kommunaler und schließlich auf nationaler Ebene an Macht. Daraus entstand die Notwendigkeit, ein demokratisches Projekt zu definieren: Die demokratisch-kulturelle Revolution als ein historisches Vorhaben, das den Wandel bringen wird. Natürlich versucht die Rechte mit moralisch niedrigen Maßnahmen, unseren demokratischen Willen zu brechen, wie 2002, als sie den Abgeordneten Evo Morales aus dem Parlament verbannte. Die sozialen Bewegungen wissen, daß Gewalt nur eine massakrierte Bevölkerung hinterläßt, und entscheiden sich darum gegen sie. Das bedeutet aber nicht, daß der Prozeß des Wandels nicht verteidigt wird.

Was ändert sich bei Annahme der neuen Verfassung für einen weißen Mestizen, für einen dunklen Aymara, für einen Reichen und einen Armen?

Die Einhaltung des gegenseitigen Respekts im kulturell vielfältigen Bolivien ist oberstes Ziel. Wir leben alle auf demselben Territorium. Dafür brauchen wir eine pluralistische Verfassung. Die Rechte versucht immer wieder darzustellen, daß wir Bolivien zerstören und in 36 Nationen »balkanisieren« wollen. Dabei fordern wir ihre Anerkennung und organisatorische Selbstbestimmung nach ihren Vorstellungen. Die westlichen Ideen werden mit der Komplexität Boliviens nicht fertig. Die bürgerlich-kapitalistische Vorstellung von Identität geht von der Einheit Nation/Staat aus. Wir wollen das Konzept der Ethnie aber nicht mehr, denn was ist dann ein Mestize? Nein, wir werden innerhalb eines sozialen Rechtsstaates mehrere Nationen mit eigener Kultur und Sprache vereinen. Nicht pluri-ethnisch, nicht pluri-linguistisch, wie es die Rechte wollte. Das Neue wird die Geburt eines pluri-nationalen Staates sein.

Und das wirtschaftliche Modell?

Wir sprechen vom pluralen Wirtschaftsmodell, wirtschaftlichen Pluralismus, in der verschiedene Formen ökonomischer Organisation ihre Anerkennung finden: Staatlich, privat, kommunitär und kooperativistisch. Obwohl lange bestehend wird zum ersten Mal eine verfassungsmäßige Festschreibung vorgenommen. Privateigentum wird respektiert, unter Erfüllung seiner sozialen Funktion. Dem Staat wird aber ganz klar die bestimmende Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung zugesprochen. Die Bodenschätze, die grundlegend für unsere Wirtschaft sind, müssen im eigenen Land genutzt und verarbeitet werden können.

Wann tritt die Verfassung in Kraft?

Wenn Morales im Amtsenthebungsreferendum am 10. August in seinem Amt bestätigt wird, kann mit voller Legitimität eine Volksabstimmung zur Annahme der neuen Magna Charta in Angriff genommen werden.

Interview: Ben Beutler

* Aus: junge Welt, 2. Juli 2008


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