Morales gibt bei Reformen weiter Gas
Bolivien: Nach Verstaatlichung der Rohstoffquellen steht nun die Weiterverarbeitung an
Von Benjamin Beutler *
Boliviens Präsident Morales hat ein Jahr nach seinem Amtsantritt sieben seiner 16 Minister
ausgetauscht. Die Bilanz dieses Jahres fällt aber trotz diverser Schwierigkeiten positiv aus.
Die Nachricht der Interamerikanischen Entwicklungsbank mutete wie ein Geschenk zum einjährigen
Amtsjubiläum des bolivianischen Präsidenten am 23. Januar an: ein Schuldenerlass von über einer
Milliarde US-Dollar. Für Evo Morales geht ein turbulentes, aber für Bolivien in vielerlei Hinsicht
einmaliges erstes Jahr vorbei. Trotz zahlreicher schwelender innenpolitischer Konflikte ist seine
Popularität weiterhin hoch. Laut aktuellen Umfragen stehen 59 Prozent der Bolivianer hinter dem
ersten indigenen Staatschef des Landes, der die Wahlen in Dezember 2005 mit 54 Prozent für sich
entscheiden konnte – in dieser Höhe ebenfalls ein Novum in der nationalen Geschichte.
Nie genoss ein Präsident einen so starken Rückhalt, nie verbesserte ein Präsident in so kurzer Zeit
die sozialen Bedingungen in Südamerikas zweitärmstem Land, unter anderem durch so ehrgeizige
Programme wie die Aktion »Ja, ich kann es« zur Bekämpfung des Analphabetismus, in dessen
Rahmen neben einer halben Million Lehrbüchern auch 30 000 Fernseh- und Videogeräte verteilt
wurden.
In einer über vierstündigen Regierungserklärung vor dem Parlament, in dem noch immer die
oppositionelle Rechte die Mehrheit besitzt, lobte Morales die Erfolge seiner Amtszeit. Man habe mit
der Einrichtung der Verfassunggebenden Versammlung, der Rückgewinnung der staatlichen
Kontrolle über die fossilen Brennstoffe, dem Abhalten eines Referendums über die regionale
Selbstverwaltung und der Landreform alle gegebenen Wahlversprechen eingehalten.
Entgegen den Schwarzmalereien der abgewählten Elite kam es wegen der Verstaatlichung des
Energiesektors nicht zu Entschädigungsforderungen der privaten Multis, ebensowenig zu einem
Einbruch der ausländischen Investitionen oder einer Kapitalflucht. Im Gegenteil: Boliviens Wirtschaft
profitiert derzeit wie schon lange nicht mehr von den hohen Weltmarktpreisen für Rohstoffe, die 44
neu ausgehandelten Gas- und Erdölförderverträge garantierten eine Gewinnverdopplung auf 1,6
Milliarden Dollar, es gab Investitionszusagen in dreistelliger Millionenhöhe. Mit Brasilien und
Argentinien wird weiter über eine Anhebung der Gaspreise verhandelt, was Zusatzeinnahmen in
Milliardenhöhe mit sich bringen kann.
Und dank der höheren Besteuerung der privaten Energieunternehmen gelang der Regierung der
Bewegung zum Sozialismus (MAS) sogar etwas, woran die Vorgängerregierungen, die den
neoliberalen Rezepten des Internationalen Währungsfonfs (IWF) folgten, scheiterten: Erstmals seit
20 Jahren erzielte der öffentliche Haushalt einen Überschuss – eigentlich eine Zielvorgabe des IWF.
Dazu beigetragen hat auch die per Präsidentendekret verordnete Diätenkürzung der Amtsträger,
wobei Morales voranging und sein Monatsgehalt auf 1900 Dollar kürzte.
Wirtschaftlich strebt Morales den Aufstieg vom Rohstofflieferanten zum Hersteller weiterverarbeiteter
Produkte an. Bisher muss das Land trotz des Erdölreichtums Diesel teuer importieren. »Das
vergossene Blut war nicht umsonst. Wir haben die fossilen Brennstoffe, ohne Angst zu haben,
verstaatlicht, der nächste Schritt wird die Industrialisierung sein«, kündigte Morales an.
Selbstkritik fand kaum statt, was angesichts der aggressiven Agitation der Opposition und des
Schürens von Gewalt nicht verwundert. »Es wurden vielleicht Fehler gemacht, niemals aber gab es
Verrat an der Sache«, rief Morales den feiernden MAS-Anhängern in La Paz zu und bezog sich
damit auf die gewalttätigen Proteste gegen den Präfekten von Cochabamba, Reyes Villa, Anfang
Januar, bei denen es zu 20 Toten und Hunderten von Verletzen gekommen war. Die der MAS
nahestehenden sozialen Bewegungen hatten nach der Bildung einer Parallelregierung deren
Nichtanerkennung durch die Regierung kritisiert. Zwecks besserer Verständigung zwischen der
Basis und den jetzt staatlichen Apparaten der MAS wurde deshalb eine »Nationale
Koordinierungsstelle für den sozialen Wandel« gegründet, der Vertreter beider Seiten an einen Tisch
bringt.
»Früher sah das Volk die Regierung und den Staat als Mittel der Unterdrückung an, heute versteht
das Volk, dass beide Institutionen einen demokratischen Wandel im Sinne haben«, erklärte der MASAbgeordnete
Cesar Navarro. Eine mangelnde Kommunikation mit den oppositionell geführten
Regionen sei mitverantwortlich für die Eskalation in den Auseinandersetzungen um mehr
Selbstbestimmung.
Dennoch, so Navarro, sei es innerhalb eines Jahres der MAS gelungen, einen unwiderruflichen
Prozess in Gang gesetzt zu haben, der mit dem Neoliberalismus ein für allemal brechen werde.
* Aus: Neues Deutschland, 27. Januar 2007
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