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Die Regierung kommt von unten

Boliviens Kabinett strebt nach einer Neugründung des Staates unter Einbeziehung aller. Gespräch mit Casimira Rodriguez Romero *

Die Ministerin für Justiz und Menschenrechte, Casimira Rodriguez Romero, symbolisiert den personellen Wandel in der Politik Boliviens. Sie arbeitete 20 Jahre lang als Hausangestellte und wurde schließlich Präsidentin des lateinamerikanischen Verbandes der Hausangestellten COLACTRAHO. Auf Einladung von Terre des hommes und des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika (FDCL) war sie zu Besuch in Deutschland. Über den politischen Wandel sprach mit ihr Börries Nehe.



Neues Deutschland: Die Macht in Bolivien lag über Jahrhunderte in den Händen einer wirtschaftlichen und politischen Elite – bis im Januar die neue Regierung unter Präsident Evo Morales antrat. Viele Regierungsmitglieder entstammen sozialen Organisationen, Was bedeutet das für die Art und Weise, wie staatliche Politik nun gestaltet wird?

Casimira Rodriguez Romero: Der fundamentale Unterschied ist, dass diese Regierung von der Basis kommt. Es ist eine Regierung, die an den sozialen Kämpfen teilgenommen hat. Was wir jetzt beobachten können, ist eine totale Transformation der Politik. Die sozialen Organisationen sind im Senat, im Parlament, im Kabinett und natürlich der Verfassunggebenden Versammlung vertreten. Das bedeutet, dass die Politik sehr viel repräsentativer ist und damit die Demokratie gestärkt wird. Es geht nicht länger darum, sich zu bereichern. Es geht darum, den Reichtum auf die bestmögliche Weise zu verteilen, angefangen vom Boden bis zum gesellschaftlichen Reichtum. Wenn ein Präsident – wie Evo Morales es getan hat – seine eigenen Bezüge und die seiner Mitarbeiter halbiert, dann steckt darin die Botschaft, dass Reichtum besser verteilt werden kann, damit die Gesellschaft die Ressourcen hat, um für Ärzte und Lehrer aufzukommen.

Der politische Wandel stößt auf Widerstand. Insbesondere die wirtschaftliche und politische Elite aus den vier Tiefland-Departamentos Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija zieht gegen die Politik der Regierung ins Feld.

Ja, die Oligarchie versucht beständig, die Präsenz eines Indígena an der Macht als Bedrohung aufzubauen. Sie wollen ihn als einen Präsidenten darstellen, der nicht in der Lage ist, die Interessen der Unternehmer zu berücksichtigen. Tatsächlich aber kümmert sich der Präsident auch um die Privatunternehmen und deren Exporte florieren. Die Regierung vergisst weder die Privatunternehmen noch die Tiefland-Gebiete: Wie im Rest des Landes wird auch dort viel in die Infrastruktur investiert. Die Unternehmer werden als Unternehmer voll und ganz respektiert. Aber die Oligarchie und andere privilegierte Gruppen wollen eine individualistische Kultur bewahren, welche nur die Interessen einer kleinen Gruppe im Blick hat. Ihr Widerstand richtet sich gegen alles, was ihre angestammten Privilegien antastet. Wenn die Privilegien dieser Gruppen auf Ungerechtigkeiten und die Ausbeutung bestimmter Sektoren unserer Gesellschaft basieren, wird unser Präsident sie unter keinen Umständen hinnehmen.

Das Konzept der »ursprünglichen Verfassung« sieht im Grunde eine Neugründung Boliviens vor, wie sie insbesondere indigene Organisationen und die regierende Bewegung zum Sozialismus (MAS) fordern. Andere Sektoren üben harte Kritik und wollen auf der Grundlage der bestehenden Verfassung arbeiten. Wie bewerten Sie diesen Streit?

Eine »ursprüngliche Verfassung« bedeutet nicht, dass nur die Aymaras, Quechuas oder Guaranís berücksichtigt werden. Die Mittelklasse und die Oligarchie äußern die Befürchtung, sie würden nicht Teil der neuen Verfassung sein. Aber der Sinn der neuen Verfassung ist es, von der Realität ausgehend, ein souveränes Land zu schaffen, und zwar unter Einbeziehung aller Bolivianer. Es geht darum, dass alle Bolivianer beginnen, eine gemeinsame Grundlage zu spüren, und das ist die neue Verfassung. In diesem Sinn soll die Verfassunggebende Versammlung »ursprünglich« sein.

Wie lässt sich diese Grundlage praktisch erarbeiten?

Durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Sektoren. Am Verfassungsprojekt arbeiten Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche, indigene Organisationen mit, vom östlichsten Landesteil bis in die Hochebenen. Die verschiedenen Sektoren haben in Seminaren ihre Vorschläge und Forderungen erarbeitet und sie den gewählten Vertretern in der Verfassunggebenden Versammlung zukommen lassen. Jetzt gilt es natürlich, mit diesen Gruppen weiter zu arbeiten, ihre Forderungen zu unterstützen und zu versuchen, den riesigen Berg eingegangener Vorschläge zu ordnen und einen Fokus zu schaffen. Dieser Prozess ist ein klares Zeichen für die Demokratisierung des Landes, für die neuen Partizipationsmöglichkeiten.

Mit der Transformation Boliviens wird auch die so genannte Agrarrevolution vorangetrieben. Sie sieht eine Umverteilung des Bodens vor. Welche Ländereien sind davon betroffen?

Leider hat die Agrarreform von 1952 den Boden sehr ungleich verteilt. Das Resultat davon ist, dass insbesondere im Osten des Landes große Ländereien weiterhin in der Hand von wenigen Unternehmern sind, wohingegen vielen indigenen Gemeinden im ganzen Land kaum Böden zuerkannt wurden. Ich beispielsweise bin Migrantin aus einer indigenen Quechua-Gemeinde. Mein Großvater und mein Vater hatten noch Land, aber da wir zehn Geschwister waren, reichten die Böden nicht aus. Die Migration in die urbanen Zentren ist das direkte Resultat dieses Mangels an Boden. Die Ländereien, welche jetzt neu verteilt werden, sind bisher staatliches Eigentum gewesen. Sie sollen denen zu Gute kommen, die über kein Land verfügen. Dieser Prozess soll ohne die Verletzung von Eigentumsrechten vonstatten gehen. Das heißt aber nicht, dass man die enormen Territorien, welche sich in privaten Händen befinden, völlig unangetastet lassen wird. Und das ist natürlich die große Angst der Oligarchie. Deswegen fackelt sie überall ein riesiges Feuerwerk ab, welches der Welt beweisen soll, dass der Präsident Evo Morales ihre unternehmerischen Rechte angreift. Bisher aber hat man nicht ein privates Territorium auch nur angerührt, vielmehr schützt der Staat weiterhin das Eigentumsrecht.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Oktober 2006

Hier geht es zu einem weiteren Interview mit Casimira Rodriguez Romero: "Eine Justiz, die alle Menschen gleich behandelt"


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