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Streik für elf Mittagessen

In Bolivien einigten sich Regierung und Gewerkschaften auf Lohnerhöhungen

Von Benjamin Beutler *

Nach mehr als zehn Tagen Verkehrschaos, Protestmärschen und Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten haben sich die Linksregierung Boliviens und der Gewerkschaftsdachverband COB zu Wochenbeginn bei einem Verhandlungsmarathon von 36 Stunden auf Lohnerhöhungen geeinigt. Schnell kehrte daraufhin die Normalität in die protesterprobte Andenstadt La Paz zurück. »Endlich können die Paceños wieder in Ruhe und Frieden leben«, freute sich nicht nur der Polizeichef der Stadt, Roberto Tórrez. »Von Herzen« bedankte sich COB-Chef Pedro Montes bei den Bürgern für »ihre Geduld während der Tage des Protestes«. Allein mit Druck von der Straße »konnten wir unsere Forderungen geltend machen, unser Recht durchsetzen«, so Montes. Die mächtige COB hatte ihre zwei Millionen Mitglieder zum Streik aufgerufen, weil ihr das Angebot der Regierung von Präsident Evo Morales für eine Lohnerhöhung von zehn Prozent zu niedrig war und sie mindestens 15 Prozent haben wollte.

Die nun vereinbarte Lohnerhöhung von elf bis zwölf Prozent reiche »für elf Mittagessen, zwölf Busfahrten und 260 Brote«, rechnete die Tageszeitung El Mundo vor.

»Wir denken, das Thema hätte mit längerem Vorlauf und ohne die Gewaltausbrüche gelöst werden können«, kritisierte Regierungssprecher Iván Canelas das Vorgehen der Gewerkschaften. »Einigen Funktionäre« hätten eine »gerechtfertigte Forderung für politische Zwecke mißbraucht«. Damit meinte er vor allem eine Demonstration unabhängiger Minenarbeiter, die den Regierungspalast mit Dynamitstangen angegriffen hatten. Ehrgeizige Gewerkschafter hätten »den Prozeß des Wandels beeinträchtigen« wollen, so Canelas. Nachdem man den Gewerkschaftsvertretern jedoch einen Blick in die Staatsfinanzen gewährt habe, hätten auch diese den begrenzten Spielraum für Lohnerhöhungen erkannt.

Trotz der Spannungen ist der Streik der COB ein Beleg für die neue Demokratie in Bolivien. Diktaturen in den 70er und neoliberale Regierungen der 90er Jahre hatten Lohnforderungen und Straßenproteste regelmäßig gewaltsam unterdrückt. Führende COB-Aktivisten wie der 2001 verstorbene Juan Lechín mußten das Land wegen der Verfolgung mehrfach verlassen. Bei Protesten gegen Steuererhöhungen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land im Februar 2003 verordnet hatte, waren 32 Menschen von Scharfschützen der damaligen Staatsmacht ermordet worden.

* Aus: junge Welt, 21. April 2011


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