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Votum am Amazonas

Straßenbau durch Naturschutzgebiet: Boliviens Regierung setzt auf direkte Demokratie. Befürworter und Gegner sollen abstimmen

Von Benjamin Beutler *

Mit einer Volksbefragung soll in Bolivien jetzt der seit Monaten anhaltende Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern eines Straßenbauprojekts durch das Naturschutzgebiet »Indigenes Territorium Nationalpark Isiboro Sécure« (TIPNIS) entschärft werden. Am Mittwoch stimmte der bolivianische Senat, in dem die regierende Bewegung zum Sozialismus (MAS) eine Zweidrittelmehrheit hält, für das entsprechende Gesetz. Vizepräsident Álvaro García Linera bat die »internationale Gemeinschaft« um Hilfestellung und Begleitung der Befragung.

Als erster Staat der Erde hat Bolivien in seiner neuen Verfassung von 2009 die zwei Jahre zuvor von der UN-Vollversammlung verabschiedete Erklärung über die Rechte der indigenen Völker eins zu eins übernommen. Nun kommt es in Bolivien erstmals zu einer Konsultation im Sinne der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Diese sieht vor, daß die Bewohner eines Gebietes über Infrastruktur oder Ausbeutung von Bodenschätzen mitbestimmen sollen. Resultate einer solchen Befragung sind dann für Gesetzgeber und Regierung bindend.

Am vergangenen Wochenende waren in La Paz Regierungsunterhändler mit 40 der insgesamt 60 Gemeindevertreter aus dem TIPNIS zusammengekommen, nachdem zuvor ein Demonstrationszug von mehreren tausend Befürwortern des Straßenbaus in La Paz eingetroffen war. Vierzig Tage lang waren sie aus ihrer Heimat rund 500 Kilometer nach La Paz marschiert.

Innerhalb von 120 Tagen soll die Bevölkerung im TIPNIS nun über den Bau der Verbindungsstraße zwischen dem Hochland-Departamento Cochabamba und Beni im Tiefland entscheiden. Das Ergebnis der Befragung der indigenen Bewohner ist bindend. Damit könnte der Weg frei sein für eine friedliche Lösung des seit Monaten schwelenden Streits um den Straßenbau. »Diejenigen werden über die Angelegenheit entscheiden, die wirklich im TIPNIS leben, und das sind die Indigenen«, zeigte sich Rodolfo Machaca, Vorsitzender der mächtigen Bauernbewegung CSUTCB mit dem Ergebnis zufrieden. »Wir hoffen daß die Ergebnisse respektiert werden«, so Machaca in Richtung des Verbandes der Tieflandindigenen CIDOB. Der zunehmend regierungskritische CIDOB hatte im vergangenen Jahr einen zeitweiligen Baustopp erreicht. Ebenfalls zu Fuß und unterstützt von einer breiten Allianz internationaler Umweltschutzorganisationen waren Hunderte CIDOB-Mitglieder nach La Paz demonstriert. Als Reaktion darauf hatte Präsident Evo Morales im vergangenen Oktober den Bau der 306 Kilometer langen Straße auf Eis gelegt und TIPNIS zur »unberührbaren Zone« erklärt.

Der mit einem 332-Millionen-Dollar-Kredit der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES finanzierte Straßenbau soll die bislang nicht verbundenen Departamentos Beni im Tiefland und Cochabamba im Hochland zusammenführen. Gegner dieses Verkehrsweges warnten jedoch vor Holzeinschlag, Kokaanbau und Besiedlungen, die für den Wald der »Todesstoß« seien. Auch werde die Route allein Brasilien zugute kommen, das Teilstück des kontinentalen Infrastrukturprogramms IIRSA nutze nur dem Nachbarn aus dem Osten. Hinter der ökologisch begründeten Kritik stehen jedoch auch zweifelhafte Interessen. Eine Studie der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation »Democracy Center« macht hinter der CIDOB die Umweltorganisation »Stiftung der Naturschutzfreunde« (FAN) als Strippenzieher aus. Diese Organisation wird von der US-Entwicklungsbehörde USAID und der »Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit« (GIZ), der Europäischen Union von Öl- und Chemiemultis wie BP und Dow Chemical mit Geldern und Personal ausgestattet. Die FAN hat Interesse an unberührten Naturschutzgebieten, um über diese Millionen aus internationalen Klima-Ausgleichszahlungen für den Waldschutz gegen CO2-Emissionen zu kassieren. Die Stiftung selbst ist, das ist in Bolivien ein offenes Geheimnis, in der Hand von Familien der weißen Oberschicht aus der Oppositionshochburg Santa Cruz im Tiefland.

* Aus: junge Welt, 11. Februar 2012


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