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Entwurf für neue Verfassung

Bolivien: Abstimmung ohne Opposition. Unruhen in Sucre

Von Benjamin Beutler *

Die verfassunggebende Versammlung Boliviens hat am Samstag in einer Kaserne unweit von Sucre die Rohversion der neuen Magna Charta zur Abstimmung gebracht. Von den insgesamt 255 Wahlmännern waren jedoch nur 138 anwesend. Die Opposition bezeichnete die Sitzung als illegal, weil sie den Umzug aus dem unsicheren Sucre in die Kaserne »La Glorieta« abgelehnt hatte. Deshalb wurde die Geschäftsordnung geändert, danach reichte die »Zweidrittelmehrheit der anwesenden Wahlmänner« aus. 136 stimmten dem Verfassungsentwurf der regierenden MAS zu. Man werde die künftige Verfassung nicht befolgen, so Branko Marinkovic, Präsident des aus Unternehmern und Landbesitzern bestehenden »Bürgerkomitees Pro Santa Cruz«.

Expräsident und Oppositionsführer Jorge »Tuto« Quiroga, ein politischer Ziehsohn des verstorbenen Diktators Húgo Banzer, bezeichnete die unter der Leitung der Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) redigierte Verfassung als »genauso viel wert wie benutztes Klopapier«.

Präsident Evo Morales begrüßte die Verabschiedung des Verfassungstextes in einer Ansprache an die Nation als »historisch«. Für die Opposition, so Morales, sei es unerträglich, daß »der Indio jetzt Präsident ist«. Vor allem legislatorische Vorhaben wie ein bisher nicht vorhandenes, rückwirkendes Antikorruptionsgesetz mache denen Angst, die sich bisher auf einfache Art bereichert haben. Und in die nahe Zukunft schauend, kündigte er mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung, die im kommenden Jahr per Referendum mit absoluter Mehrheit ratifiziert werden muß, Neuwahlen an. So würde das ganze Volk entscheiden, die Verfahren sei »das demokratischste überhaupt«.

Weitere Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und Polizei haben am Wochenende drei Tote und über hundert Verletzte gekostet. Nach dem Umzug der Verfassunggebenden Versammlung in die Kaserne kam es außerhalb des von Polizei und Militär bewachten Areals zu heftigen Zusammenstößen mit regierungsfeindlichen Demonstranten. Diese versuchten, in die Kaserne einzudringen, was jedoch mißlang. Den 28jährigen Juristen Gonzalo Durán Carazani auf seiten der Demonstranten traf ein Schuß in Herznähe, an dessen Folgen er kurz darauf im örtlichen Krankenhaus starb. Laut ersten Untersuchungsergebnissen stimmt das Kaliber der tödlichen Kugel weder mit denen der von der Polizei noch mit vom Militär verwendeten Geschosse überein.

In Reaktion auf den Tod des Juristen und aufgrund der Nachricht, daß der Verfassungskonvent unter Abwesenheit der sich verweigernden Opposition den Gesetzesvorschlag der Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« angenommen hatte, lynchte am Samstag eine aufgebrachte Menschenmenge den Polizisten Jonny Quispe. Am Abend kam ein weiterer Toter hinzu. Im Leichenschauhaus wurde der 25jährige Juan Carlos Zerrudo Murillo identifiziert. Sein lebloser Körper war nahe der Kaserne gefunden worden. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, wurde ein Abzug aller Polizeikräfte angeordnet. Zuvor hatten Einwohner Sucres bereits das Polizeipräsidium gestürmt, dort Feuer gelegt und über 100 Gefängnisinsassen zur Flucht verholfen. Auch der Flughafen wurde von Protestierenden besetzt, Flüge fielen aus. Erst am späten Sonntag abend kehrte wieder Ruhe in Sucre ein.

Morales verurteilte die gewaltsamen Auseinandersetzungen als einen »Versuch der Oligarchie, die verfassunggebende Versammlung zum Scheitern zu bringen«. Die Bevölkerung Sucres habe sich von dieser belügen lassen. Zudem habe es nie einen Schießbefehl für Militär und Polizei gegen Demonstranten gegeben, wie andernorts behauptet werde. »Wir sind nicht von der Kultur des Todes. Wir sind von der Kultur des Lebens«, so Morales.

* Aus: junge Welt, 27. November 2007


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