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Kommt es zu einer "Neugründung" Boliviens?

Bewegung zum Sozialismus (MAS) gewinnt die Wahlen zum Verfassungskonvent - Der Abschied vom "neoliberalen Modell" geht weiter

Am 2. Juli 2006 stimmte Bolivien über ein Referendum zur Autonomie der einzelnen Landesteile (Departments) ab und wählte darüber hinaus eine neue Verfassung gebende Versammlung. Beide Abstimmungen brachten das gewünschte Ergebnis für den amtierenden Präsidenten Evo Morales.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, in denen die wichtigsten Ergebnisse der Wahl zusammengefasst und kommentiert werden.



Rückendeckung für Evo Morales

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

In Bolivien hat die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) die Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung klar gewonnen. Die Partei von Präsident Evo Morales verfehlte jedoch die angestrebte Zwei-Drittel-Mehrheit der 255 Sitze. Damit muss das Regierungslager weiter Kompromisse eingehen.

Ein Ergebnis, aber mindestens zwei Meinungen: »Wir haben dreifach gesiegt«, wertete Boliviens Präsident Evo Morales die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung als Erfolg: in der Autonomiefrage, bei den Stimmen und bei der Sitzverteilung in der verfassunggebenden Versammlung. »Der Orgasmus der Bewegung zum Sozialismus (MAS) ist vorbei«, frohlockte hingegen der Historiker Alcides Rojas. Gemessen an der auch von Morales geschürten Hoffnung, die Regierungspartei könnte zwischen 70 und 80 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, hat er sicher Recht.

Klar ist, dass die regierende MAS ihren Wahlerfolg vom vergangenen Dezember bei der Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung wiederholt hat. Hochrechnungen mehrerer Umfrageinstitute zufolge erzielte die Partei von Präsident Evo Morales am Sonntag erneut die absolute Mehrheit und wird etwa 135 der 255 Abgeordneten stellen, die am 6. August ihre Arbeit aufnehmen. Der Stimmenanteil der MAS lag nach Auszählung von knapp der Hälfte aller Stimmbezirke bei gut 45 Prozent – doch er dürfte noch erheblich zunehmen, wenn die Ergebnisse aus den ländlichen Gebieten eintreffen. Rund 56 Prozent aller Wähler folgten zudem der Empfehlung des Staatschefs und lehnten eine größere Autonomie für die neun Provinzen ab, wie sie die rechte Opposition fordert.

Doch die Volksabstimmung über die Autonomie machte erneut auch die Zweiteilung des Landes deutlich: In den vier östlichen Provinzen Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando gab es klare Mehrheiten für das Ja. In Santa Cruz, der Hochburg der Autonomiebewegung, betrug sie 72 Prozent. »Der Zentralismus ist tot«, jubelte Gouverneur Rubén Costas vor tausenden Anhängern. Als Sprechchöre »Unabhängigkeit« forderten, gab er sich staatsmännisch: »Es ist möglich, dass wir mit unseren Unterschieden zusammenleben.«

Im konservativen Südosten konnte die MAS allerdings auch Boden gutmachen: Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung lag die Regierungspartei gleichauf mit der jeweils dominierenden Bürgerpartei. Hingegen brach die größte Oppositionskraft ein: Die Partei Podemos von Expräsident Jorge Quiroga sank seit Dezember landesweit von 28 auf 17 Prozent. Offenbar ging Quirogas Kampagne ins Leere, vor »kubanischen Verhältnissen« zu warnen und Morales als Erfüllungsgehilfen von Chávez abzustempeln.

Morales fühlt sich auf alle Fälle in seinem Kurs bestärkt. »Diese Ergebnisse geben uns Kraft, um den Wandel in Bolivien fortzusetzen.« Die Nationalisierungen und und der »Abbau des neoliberalen Modells« gingen weiter, versprach der Präsident. Dennoch wird die Regierung zu Kompromissen gezwungen werden, denn in der verfassunggebenden Versammlung ist eine Zweidrittelmehrheit für die Verabschiedung der Artikel vorgeschrieben.

Daher steht auch ein Systemwechsel, wie ihn Hugo Chávez in Venezuela vollzieht, in Bolivien noch nicht auf der Tagesordnung. Bereits im März, als die Modalitäten für die jetzigen Abstimmungen festgelegt wurden, hatte die Regierung der Opposition weitgehende Garantien eingeräumt und auf eine mögliche Zweidrittelmehrheit der Sitze verzichtet. Die von Morales immer wieder beschworene »Neugründung Boliviens« wird weniger spektakulär ausfallen als von vielen erhofft.

Das liegt vor allem an den innen- und außenpolitischen Abhängigkeiten. Ausgerechnet Brasiliens Staatskonzern Petrobras sträubt sich bislang am heftigsten gegen eine Neuverhandlung der Erdgasverträge. Dagegen stimmte die argentinische Regierung einer Preiserhöhung von 3,38 auf 5 Dollar pro Million BTU Erdgas (British Thermal Units, etwa 28 Kubikmeter) zu. »Wir haben die Pflicht, andere soziale Kräfte und andere Regionen zu integrieren, damit sie den Wandel verstehen, den das bolivianische Volk sucht«, sagte Evo Morales am Wahlabend. Die Regierung steht vor einem Dilemma: Soll sie auf Konfrontationskurs mit der Oligarchie gehen oder die radikaleren Kräfte innerhalb des MAS und der sozialen Bewegungen klein halten, die nach den Ankündigungen der letzten Monate, etwa zur Landreform, Taten sehen wollen? Dieser Balanceakt, den Morales bisher geschickt gemeistert hat, bekommt durch die verfassunggebende Versammlung ein zusätzliches, öffentliches Forum.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2006


Zweiter Sieg für Evo

Von Timo Berger *

Sichtlich zufrieden erklärte der bolivianische Präsident Evo Morales seine Partei MAS („Bewegung zum Sozialismus“) am Sonntag abend (Ortszeit) zur Siegerin der Wahlen für den Verfassungskonvent. Gegenüber der Abstimmung über die Präsidentschaft im vergangenen Dezember verbesserte die MAS ihr Ergebnis nach vorläufigen Hochrechnungen von 54 auf etwa 60 Prozent der Stimmen. Damit schickt die MAS laut Radio Erbol 135 Vertreter in den Nationalkonvent (255 Sitze). Dieser soll ab dem 6. August in der historischen Hauptstadt Sucre ein Jahr lang tagen, um eine neue Magna Carta für Bolivien auszuarbeiten. 3,7 Millionen Bolivianer waren wahlberechtigt.

Die Wahl, so Morales in La Paz, sei eine Bestätigung für seine Politik der Verstaatlichung der Treibstoffreserven und die Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell. »Diese Unterstützung gibt uns mehr Kraft, um Bolivien weiter zu verändern«, versicherte Morales und dankte den sozialen Bewegungen und den Vertretern der Indigenen für ihren Beistand.

Gleichzeitig mit den Wahlen fand ein Referendum zur Autonomie der einzelnen Landesteile (Departments) statt. Die Mehrheit der Wähler (nach vorläufigen Zahlen 52,9 Prozent) stimmte für »Nein« und damit gegen die Abspaltungstendenzen im sogenannten »Halbmond«, den treibstoffreichen Departments im Osten des Landes (Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija), wo sich mehr als zwei Drittel der Wähler für »Ja« entschieden.

Die MAS wird die stärkste Kraft in der verfassungsgebenden Versammlung. Abgeschlagen sind die Parteien von Morales’ Rivalen aus der Präsidentschaftswahl: Die rechtskonservative Podemos von Tuto Quiroga erhält voraussichtlich 60 Sitze, die Mitte-Rechts-Partei Unidad Nacional von Samuel Doria Medina zehn Sitze. Dennoch schaffte die MAS nicht die von ihr angestrebte Zweidrittelmehrheit (170 Sitze), die nötig wäre, um die Verfassung allein nach ihren Vorstellungen zu verändern. Bei seinem Amtsantritt hatte Morales eine »Neugründung Boliviens« versprochen. Sein Vize, Álvaro García Linera, räumte im Vorfeld der Wahlen zum Konvent jedoch ein, die Versammlung werde maximal 20 Prozent der Verfassung verändern.

Um das zu erreichen, wird die MAS mit anderen politischen Kräften paktieren müssen. Denn der Verfassungsentwurf muß nächstes Jahr mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet und dann noch einer Volksabstimmung vorgelegt werden. Es ist das erste Mal, daß die Verfassung des 1825 gegründeten Landes von einem allgemein gewählten Verfassungskonvent reformiert wird. Morales erklärte, der Verfassungskonvent beende die fünfhundertjährige Herrschaft einer weißen Elite über ein Land, in dem sich nach der 2002 durchgeführten Volkszählung 62 Prozent der Bevölkerung einer indigenen Gemeinschaft angehörig fühlen. In der neuen Verfassung soll, so der Wunsch von Morales, neben der Verstaatlichung der Treibstoffreserven auch die Autonomie indigener Territorien festgeschrieben werden.

** Aus: junge Welt, 4. Juli 2006


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