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"Ohne politische Einigung wird die Krise kein Ende finden"

Die Verfassunggebende Versammlung in Bolivien steht an einer entscheidenden Gabelung

Robert Aguilar Gómez ist erster Vizepräsident der Verfassunggebenden Versammlung (VV) Boliviens und bekleidet somit eines der höchsten Ämter des Landes. Aguilar ist Ökonom. Politisch fordert er Reformen zu Gunsten der indigenen Bevölkerungsmehrheit mit dem langfristigen Ziel der Etablierung einer sozial verträglichen Gesellschaftsordnung. Sein Schwerpunkt liegt in der Wirtschafts- und Bildungspolitik. Über die Schwierigkeiten in der VV sprach mit ihm für das Neue Deutschland (ND) Benjamin Beutler.



ND: Im Dezember 2007 wurde in Sucre der Verfassungsentwurf einer neuen Magna Charta verabschiedet. Die konservative Opposition blieb der Abstimmung fern, vor den Türen des Konvents, der sich wegen anhaltender Angriffe in eine Kaserne zurückziehen musste, herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Es gab Tote, der regierenden »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) wird vorgeworfen, ihre Verfassung sei »diktatorisch und mit Blut beschmiert«. Zu Recht?

Gómez: Noch läuft eine Untersuchung, was damals wirklich in Sucre passiert ist. Der Tod von Menschen während eines politischen Prozesses ist dramatisch, ein zu großes Opfer, das durch keine Erklärung gerechtfertigt werden kann. Im Fall Sucre haben allerdings sehr radikale Gruppen wie die eigens angereiste »Jugendunion Santa Cruz« lokale Studentenverbände und Anhänger des »Komitees der interinstitutionellen Allianz«, in der sich alle Morales-Gegner zusammengeschlossen haben, von Beginn an ein Klima der Gewalt geschaffen und so versucht, den Verfassungsprozess zu unterbinden. Um in den Medien und im Ausland Bilder des Chaos zu vermitteln, hat man es gezielt darauf angelegt, dass es menschliche Opfer geben wird. Von Anfang an war klar: Man wollte in Sucre Tote, um sich diese auf die Fahne schreiben zu können. So soll die Regierung Evo Morales und der Verfassungsprozess als unmittelbares Symbol der vom MAS angeführten »demokratisch-kulturellen Revolution« diskreditiert und delegitimiert werden: »Seht her, unter Evo gibt es schon so und so viele Tote«.

Was kann von der neuen Verfassung erwartet werden?

Bolivien kämpft heute mit Problemen, die seit der Gründung der Republik 1815 nicht gelöst wurden. Im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich hat sich einiges aufgestaut und wurde im Laufe der Zeit komplexer und widersprüchlicher. Der wirtschaftlich zunehmende Druck auf die Bevölkerung schlug um in die Formulierung politischer Forderungen. Denn der in Bolivien Ende der 80er Jahre eingeführte Neoliberalismus hat anstelle von Wachstum und Entwicklung nur noch mehr Arbeitslosigkeit und Armut hervorgebracht. Das Volk hat diesen Schlag voll abbekommen und wollte nicht mehr unter diesen Bedingungen leben. Die indigenen Völker hatten an erster Stelle unter Ausbeutung zu leiden und artikulierten ihre Forderungen nach politischer Beteiligung. Zusammen mit der Krise der traditionellen Parteien, des Staates, seiner Institutionen und der Krise der korrupten Justiz ergab sich die Forderung nach einem Wandel: Keine Ausbeutung mehr, keine Unterordnung, keine Diskriminierung, kein Rassismus. Die korrupte Justiz soll sich ändern, sowie die alten Parteien, die niemanden vertreten. Im heutigen Präsidenten Boliviens, Evo Morales, und dem Verfassungsprozess vereint sich dieser Wunsch nach Veränderung.

Was sind die wichtigsten Neuerungen?

Zum einen die Einführung eines neuen Wirtschaftsmodells: Wirtschaftlicher Pluralismus. Verschiedene Formen ökonomischer Organisation finden darin Anerkennung: Staatlich, privat, kommunitär und kooperativistisch. Privateigentum wird unter Erfüllung seiner sozialen Funktion respektiert. Der Staat ist Hauptakteur wirtschaftlicher Entwicklung, wobei die Bodenschätze industrialisiert werden sollen. Zum anderen die kulturelle Neudefinierung des Staates. Die Einhaltung des gegenseitigen Respekts im kulturell vielfältigen Bolivien ist oberstes Ziel. Wir leben alle auf demselben Territorium. Dafür brauchen wir eine pluralistische Verfassung, die die organisationelle Selbstbestimmung, Kultur und Sprache der indigenen Nationen Boliviens garantiert. Bolivien wird sich als plurinationaler sozialer Rechtsstaat definieren.

Welche Verfassungsartikel sind besonders strittig?

Spricht man mit Vertretern der Opposition, so fehlt es bei 80 Prozent der strittigen Artikel allein am formalen Feinschliff, es gibt keine inhaltlichen Hindernisse. 15 Prozent sind diskutierbar und modifizierbar. Beispielsweise die Sprachfrage im öffentlichen Dienst, wo Zweisprachigkeit zur Einstellungsbedingung werden soll. Hier können Übergangsregelungen den Streit entschärfen. Es gibt logische Fehler im Text, die ausgeräumt werden. Für fünf Prozent der Artikel wird es keine Lösung geben: Die Autonomien und die Landfrage. Hier muss das Volk in einem eigenen Referendum entscheiden. Aber genau dieses für sie unberechenbare Szenario will die Opposition verhindern.

Was wird als nächstes unternommen, um den Verfassungsprozess abzuschließen?

Wir werden die Ergebnisse des Amtsenthebungsreferendums vom 10. August abwarten, bei dem Präsident Evo Morales, sein Vize sowie alle Präfekten des Landes entweder in ihren Ämtern bestätigt oder abgewählt werden. Dies wird keine Lösung sein, aber ein Schritt heraus aus der aktuellen politischen Krise.

Ist es nicht wahrscheinlich, dass die momentane Pattsituation zwischen MAS-Zentralregierung und regionaler Autonomiebewegung Bestand haben wird?

Schon möglich. Allerdings wird im Fall, dass 54 Prozent der Wähler wie schon 2005 dem Präsidenten und seinem politischen Projekt ihr Vertrauen aussprechen, neue Legitimität geschaffen. Auf einer so breiten Basis kann Präsident Morales den Verfassungsprozess wiederbeleben. Es wird neue Verhandlungsangebote an die Opposition geben. Die jetzt ruhende Verfassunggebende Versammlung wird neu zusammentreten, mögliche politische Einigungen berücksichtigen und in die neue Verfassung mit aufnehmen. Erst dann wird es zu einer ratifizierenden Volksabstimmung kommen können. Ohne politische Einigung beider Lager wird die Krise aber kein Ende finden.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juli 2008


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