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Morales ruft Bolivianer an die Urnen

Anfang Dezember findet Abstimmung über neue Verfassung des Landes statt

Von Ben Beutler *

Boliviens Präsident Evo Morales hat am »historischem Tag« ein Dekret zum Annahmereferendum einer neuen Magna Charta erlassen.

Boliviens Regierungspartei der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) hat einen wichtigen Schritt in Richtung verfassungsrechtlicher »Neugründung Boliviens« getan und für den 7. Dezember dieses Jahres zu einem landesweiten Urnengang aufgerufen. Präsident Morales rechtfertigte seine Entscheidung mit dem großen Rückhalt (67,4 Prozent), den er im Amtsenthebungsreferendum vom 10. August erhalten hatte. Er gehorche lediglich dem »Mandat des Volkes«. Das Andenland durchlebe derzeit »tiefgreifende demokratische Transformationen«.

Am Donnerstagabend (28. Aug.) hatte MAS-Kabinettschef Juan Ramón Quintana im Präsidentenpalast von La Paz das von Präsident Morales unterzeichnete Gesetz Nr. 29691 verlesen: »Das vorliegende Präsidialdekret legt das Datum des nationalen Verfassungs- und Beratungsreferendums fest, das am 29. Februar 2008 beschlossen wurde«. Damals hatte der Senat trotz Blockadehaltung oppositioneller Senatoren das Referendum zur Annahme der im Dezember 2007 vom Verfassungskonvent ausgearbeiteten Verfassung beschlossen. Zudem sollten die Bolivianer über die Einführung einer Obergrenze von Landbesitz (10 000 Hektar oder 5000 Hektar) entscheiden.

Das »Nationale Oberste Wahlgericht« (CNE) hatte den für Mai 2008 festgelegten Termin jedoch aus »technischen und rechtlichen Gründen« vorerst gestoppt. Das jetzt erlassene Dekret soll den Verfassungsprozess, der 2006 mit der Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung begonnen hatte und bei der die MAS nur knapp eine Zwei-Drittel-Mehrheit verpasste, zum Abschluss bringen. »Der strukturelle Wandel, für den das Volk seit Gründung der Republik 1825 gekämpft hat, soll sich durch die Verfassung verwirklichen. Darum ist es nötig, dass der Volkssouverän in einem Referendum seine Zustimmung gibt«, so das Gesetz.

Zum ersten Mal in der Geschichte Boliviens sollen am 7. Dezember auf regionaler Ebene auch die Stellvertreter der Präfekten sowie die einflussreichen Berater der Gebietsverwaltungen direkt gewählt werden. »Es wird keine Korruption und Vetternwirtschaft bei der Ernennung der departamentalen Berater mehr geben, die bisher nicht von der Basis gewählt wurden. Auf diese Weise wird die Dezentralisierung tatsächlich vertieft«, so Morales. Zudem werden die Bewohner von La Paz und Cochabamba am Wahltag die Nachfolger ihrer im Amtsenthebungsreferendum abgewählten Präfekten bestimmen.

Boliviens Opposition reagierte wie gewohnt ablehnend. Rolando Aguilera, Sprecher des regierungsfeindlichen Präfekten Rubén Costas, warf Morales eine undemokratische Haltung vor: »Wir sind gegen eine Regierung, die per Dekrete regiert und Politik macht«. Die rechte Hand Costas, der als der schärfste Widersacher von Morales gilt, warf dem ersten indigenen Präsidenten Südamerikas vor, er treibe Bolivien in den Bürgerkrieg. »Die Bevölkerung will Frieden, der MAS aber beerdigt die Demokratie«. Die Rechte ist gegen die 2007 vom Parlament angenommene neue Verfassung und bezeichnet sie als »mit Blut beschmiert und diktatorisch«. Sie selbst hingegen hatte immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen provoziert und die Arbeit des Verfassungskonvents unmöglich gemacht.

Die neue Verfassung stärkt die Rechte der diskriminierten indigenen Bevölkerungsmehrheit und die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre Annahme ist eine Hauptforderung der sozialen Bewegungen und Grundpfeiler der vom MAS proklamierten »demokratisch-kulturellen Revolution« im zweitärmsten Land des Kontinents.

* Aus: Neues Deutschland, 30. August 2008

Morales steiniger Weg

Von Martin Ling **

Der demokratische Vorstoß von Evo Morales ist aller Ehren wert: Ein Referendum soll die politische Spannung auflösen, die seit Monaten Bolivien in Atem hält. Ob Blockade der Verfassunggebenden Versammlung, Gewalt gegen Regierungsanhänger und deren Vertreter -- die Opposition versucht alles, um den eingeleiteten Reformprozess zu stoppen und zu diskreditieren. Dass die alten Eliten mit Zähnen und Klauen ihre Privilegien verteidigen würden, war von Anfang an klar. Doch klar ist auch, dass eine Mehrheit der Bolivianer eine Neugründung des Staates will. Mehr als 67 Prozent gaben am 10. August beim Referendum ihrem Präsidenten Evo Morales eindrucksvolle Rückendeckung.

Morales' Basis weiß, dass viel auf dem Spiel steht. Schließlich soll die neue Verfassung die bisher Zukurzgekommenen stärken. Sie sollen teilhaben an den Profiten, die die Ressourcenausbeutung abwirft, und am bebaubaren Land in einem Maß, das eine würdige Existenz ermöglicht. Dabei soll sich die Teilhabe nicht auf die wirtschaftliche Ebene beschränken, sondern die politischen Rechte der Marginalisierten stärken. Ein Programm, das an Ambition alles übertrifft, was in Bolivien je anvisiert wurde. Es umzusetzen, ist freilich ein steiniger Weg.

Bisher haben sich die alten Eliten noch keinem Votum an den Urnen gebeugt. Sie setzen ihre Destabilisierungskampagne fort, in der Hoffnung, dass die Bevölkerung Morales wegen enttäuschter Hoffnungen schlussendlich den Rücken kehrt. Hat Morales mit der Neugründung trotz des Widerstands der alten Eliten Erfolg, könnte er Schule machen: Alternativen sind machbar, Herr und Frau Nachbar.

** Aus: Neues Deutschland, 30. August 2008 (Kommentar)




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